Politische Krise in Tunesien: Jubelschreie und fliegende Steine
Nach Protesten entmachtet Tunesiens Präsident Saied den Regierungschef. Viele im Land feiern das, andere sprechen von einem Staatsstreich.
So auch am Sonntag, dem „Tag der Republik“, als Hunderte Jugendliche gegen die Untätigkeit der Regierung angesichts der sich zuspitzenden Coronasituation und der katastrophalen Lage in den Krankenhäusern des Landes protestierten. Wie in den Monaten zuvor begleiteten mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten die Menge. Einzelne Organisatoren wurden verhaftet.
Trotz der coronabedingten Ausgangssperre ließen die Sicherheitskräfte die wütende Menge gewähren. Erst vor dem Parlament trieben Tränengaswolken sie auseinander.
Freude über Veränderung
In anderen Städten Tunesiens war die Lage da bereits eskaliert: Arbeitslose und Studierende hatten die Parteibüros der moderat islamistischen Regierungspartei Ennahda angezündet. In der Hafenstadt Sfax brannte ein Polizeipanzer aus. „Wir sind die vierte Welle“, stand auf den Plakaten, und auch: „Degage!“, also: „Geht!“
Als sich die Lage am Abend langsam beruhigte, trat Tunesiens Präsident Kais Saied vor die Kameras. Im Beisein mehrerer Polizeichefs und Armeegeneräle verkündete er in staatstragendem Tonfall die sofortige Absetzung von Regierungschef Hichem Mechichi sowie eine vierwöchige Schließung des Parlaments.
Er selbst werde die Regierungsgeschäfte mithilfe eines neuen Regierungschefs übernehmen. Zudem verkündete er, nicht nur die Immunität der Abgeordneten aufzuheben, sondern auch von einem Staatsanwalt deren Straftaten untersuchen zu lassen.
Seinen Staatsstreich verkündete der Professor für Staatsrecht mit Artikel 80 der Verfassung von 2014: Gefahr für die nationale Sicherheit. Sowohl die rechtlich wackelige Begründung für diesen historischen Einschnitt in Tunesiens nachrevolutionärem Chaos als auch die Ausgangssperre waren vielen Bürgern egal: Jubelschreie und Hupkonzerte klangen durch die Straßen.
Ein ägyptisches Szenario?
Gegen 22 Uhr marschierten Tausende über die Avenue Habib Bourguiba in Tunis. Wie vor zehn Jahren standen vielen die Tränen in den Augen. Für einige Stunden kehrte eine Stimmung ein, die an Februar 2011 erinnerte, als die Tunesier ihren Langzeitherrscher Ben Ali vertrieben.
Der Jurastudent Mohammed Cherif sang mit seinen Freunden die Nationalhymne, während im Schritttempo vorbeifahrende Armeejeeps von der Menge euphorisch begrüßt wurden. Die Polizisten, die noch am Nachmittag mit Gewalt gegen eine kleinere Gruppe von Demonstrierenden vorgegangen waren, hielten sich bedeckt am Straßenrand. „Es ist ein Staatsstreich, aber das ist okay,“, schrie der 23-jährige Cherif gegen die johlende Menge an, „alles ist besser als die aktuelle Regierung und die korrupte Elite.“
Doch auch mahnende Stimmen waren in dem Jubel zu hören: „Kais Saied ist nicht weniger konservativ als viele Islamisten, ein ägyptisches Szenario ist nicht auszuschließen“, sagte ein Vertreter der LGBT-Szene, „aber alles ist besser als der Status quo.“
Am Montagmorgen fuhren Armeejeeps an neuralgischen Punkten der Hauptstadt auf. Im Stadtteil Bardo versuchten mehrere Parlamentsabgeordnete, in ihre Büros zu gelangen, doch die Armee verhinderte den Zugang. Vor dem Parlament kam es im Laufe des Tages zu Straßenkämpfen. Es flogen Flaschen und Steine.
Gefahr für die Demokratie
Doch die Lage könnte weiter eskalieren. Rached al-Ghannouchi, Chef der bislang regierenden Partei Ennahda, forderte seine Anhänger noch am Sonntagabend auf, gegen den „Staatsstreich des Präsidenten“ zu protestieren und das Parlament zu schützen.
Bereits in der Nacht auf Montag waren Steine geflogen zwischen den Anhängern von Kais Saied und denen der religiösen Parteien Karama und Ennahda. Zwischen den Gruppen standen schwerbewaffnete Armeerekruten und Antiterroreinheiten der Polizei, die die Menge bis früh in den Morgen mit Tränengas angriff.
Menschenrechtsaktivisten diskutieren nun, ob Kais Saied wie behauptet das Recht habe, Parlament und Regierung zu entmachten. Der Analyst Selim Kharat ist skeptisch, dass der von Saied aktivierte Paragraf 80 der Verfassung gilt. Dieser gibt dem Präsidenten im Falle eines drohenden Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung das Recht, die Macht an sich zu reißen.
Nun rächt sich, wovor Kharat und andere immer wieder gewarnt hatten. Die heillos zerstrittenen politischen Parteien hatten sich in acht Jahren nicht auf ein von der Verfassung vorgeschriebenes Verfassungsgericht einigen können. „Nur Verfassungsrichter könnten die gefährliche Situation entschärfen“, sagt Kharat.
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