Politische Krise in Tunesien: Machtkampf, Pandemie, Staatskrise

Präsident Kais Saied legt das Parlament auf Eis. Die Regierungspartei Ennahda spricht von einem Putsch. Wie geht es weiter in Tunesien?

Tunesiens Präsident Kais Saied

Markiert den starken Mann: Tunesiens Präsident Kais Saied Foto: Tunisian Presidency Facebook/afp

Regierungschef abgesetzt, Parlament ausgesetzt: Es ist die größte politische Krise, seit das kleine Tunesien vor zehn Jahren als einziges demokratisches Land aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist. „Der Staatschef übernimmt die exekutive Macht mithilfe eines Premierministers, den der Präsident bestimmen wird“, sagte Präsident Kais Said. Kürzer und eindeutiger lässt sich das Ende der Gewaltenteilung nicht erklären.

Wieder einmal wird hier die Spaltung vieler arabischer Gesellschaften in Islamisten und Säkularisten deutlich. Aber in Tunesien waren beide Seiten als Parteien ins Parlament gewählt worden und saßen bislang in einer Einheitsregierung.

Tunesiens Islamisten – allen voran die bislang regierende moderat-islamistische Partei Ennahda – fürchten nun ein ägyptisches Szenario, ähnlich wie 2013, als der damalige Militärchef Abdel Fattah al-Sisi den Muslimbruderpräsidenten Muhammad Mursi stürzte und die Macht an sich riss.

Präsident Saied betont allerdings, dass es sich um temporäre Maßnahmen handle: Das Parlament soll nur für 30 Tage ausgesetzt werden.

Wucht der Pandemie

Tunesien war paralysiert in einem Streit zwischen Regierung, Parlament und Präsident. Seit Januar hatte der 2019 gewählte populistische Präsident sich geweigert, elf von Regierungschef Hichem Mechichi vorgeschlagene Minister abzusegnen. Der wiederum hatte alle Kabinettsmitglieder rausgeworfen, die Saied nahestanden.

Gleichzeitig verschärfte sich die wirtschaftliche und soziale Frage. Die letzten Daten der Weltbank zur Jugendarbeitslosigkeit (35 Prozent) stammen von 2019. Die Pandemie dürfte sie noch erhöht haben.

Auch Ex-Präsident Moncef Marzouki warnte, Tunesien könnte nun in eine „noch schlimmere Situation schlittern“

So heftig, wie in Tunesien hat die Coronapandemie in keinem Land der arabischen Welt gewütet. Mit seinen 12 Millionen Einwohnern zählt das Land inzwischen jeden Tag über 300 Covid-19-Tote. Die WHO bezeichnet die Lage als „extrem besorgniserregend“. Die Krankenhäuser sind vollkommen überlastet. Die Impfkampagne kommt nur schleppend voran.

Ob Saied nun tatsächlich der Retter ist oder ob er die Krise als Chance sieht, die junge Demokratie wieder auszuhebeln, werden die nächsten Wochen zeigen. Am Montag standen die Zeichen zunächst auf weitere Eskalation: Anhänger des Präsidenten stürmten Büros der Ennahda; es kam zu gewalttätigen Rangeleien auf beiden Seiten.

Hält die Demokratie?

Befürchtet werden auch bevorstehende Verhaftungswellen. Dass die tunesische Polizei am Montag die Studios des Fernsehsenders Al Jazeera stürmte, ist kein gutes Omen.

Viel wird jetzt davon abhängen, wie Ennahda reagiert und wie stark die Partei ist. Die Frage ist auch, wie sich andere politische Kräfte im Land positionieren, allen voran die Parteien, deren Repräsentanz im Parlament nun ausgesetzt wurde. Auch die Gewerkschaften und Berufsverbände, die das Land bei seiner letzten großen politischen Krise 2013 zusammengehalten haben, werden ein gewichtiges Wort mitreden.

Zwei Parteien im Parlament – Das Herz Tunesiens und die Karama – verurteilten den Schritt des Präsidenten ebenfalls als Coup. Auch Ex-Präsident Moncef Marzouki, der nach dem Sturz Ben Alis als erster Präsident den Übergang zur Demokratie leitete, warnte, Tunesien könnte nun in eine „noch schlimmere Situation schlittern“.

Der einflussreiche Verband tunesischer Gewerkschaften unterstützte dagegen in einer Erklärung die außerordentlichen Maßnahmen – schränkte aber ein, dass die Verfassung eingehalten und der demokratische Prozess gesichert sein müsse.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.