Die Wahrheit: Psychopathen braucht die Welt
Eine Pandemiefolge: Internate boomen! Aber wächst dort wirklich die Elite von morgen heran? Ein Besuch auf Schloss Krampenzorn.
Volodymyr, in Deutschland geborener Sohn ukrainischer Gastarbeiter, kann sein Glück nicht fassen: „Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, die meisten Menschen, denen ich begegnet bin, haben mich kaum beachtet. Und doch stehe ich jetzt hier, in Anzug und Lackschuhen, vor einer der angesehensten Schulen des Landes!“
„Ja, ja, ist schon gut, danke, bitte, der Rest ist für Sie“, mault der zwölfjährige Julius C., stopft Volodymyr einen Fünfzig-Euro-Schein in die Sakkotasche und verlässt das klapprige Taxi, das ihn zu seiner ersten Stunde gebracht hat. Volodymyr steuert seinen knatternden Diesel vom Internatsgelände und ist insgeheim mehr als froh darüber, sich nicht länger mit dem verdorbenen Pack dort abgeben zu müssen.
Die Heimfahrt wird Julius nach dem heutigen Lernprogramm nicht antreten. Er wird hier seine Hausaufgaben machen, wird spielen, essen, schlafen, weinen, mobben und bis zu den Weihnachtsferien mit 1.200 anderen Schülern auf Schloss Krampenzorn wohnen. Drei Schülerinnen sind auch darunter.
Krampenzorn bei Hildesheim, erbaut 1602 von Berthold zur Daleber, gilt seit 1997 als eine der besten Bildungsanstalten Niedersachsens, davor galt sie als „so lala“ (Focus). Wer seinem Sohn oder seiner Tochter einen Platz für das Schuljahr 2021/22 ergattern wollte, musste schnell sein. „Wer zuerst kommt, zahlt zuerst“ steht denn auch in großen Kupferlettern über dem Eingangstor des Internats.
Halbschuljahre namens Semester
Die Beiträge für ein „Semester“, wie die Halbjahre hier hochtrabend heißen, belaufen sich auf Summen, mit denen die Schüler der unteren Klassen noch nicht einmal rechnen können; sie haben private Buchhalter dafür.
„Ein vierstelliges Schulgeld pro Monat tut vielen Eltern nicht weh“, sagt Erzgouvernante Herfriede zu Wittelsbach, „das hatten sie während der Pandemie doch ohnehin übrig mangels Gelegenheiten, es auszugeben. Die Sprösslinge sind längere Zeit aus dem Haus, kommen gebildet zurück, und obendrein gibt es das Privileg, privilegierte Kinder zu haben, das nenne ich Win-win-win-win-win-win …“ In diesem Gedanken bleibt die Erzieherin für mehrere Minuten hängen – aufgrund jahrhundertelanger Inzucht hat die Adelige einen angeborenen Hirnschaden.
Doch nicht nur bergeweise angehäufte Aktiva begünstigen den Run auf die Internate, auch die besseren Lernbedingungen sprechen dafür. Weil Klassenverbände in Internaten als ein Haushalt gelten, konnte während des Lockdowns konstant Präsenzunterricht stattfinden, Fehlstunden gab es so gut wie keine.
Das Hygienekonzept auf Krampenzorn besteht darin, Kindern aus „gewissen Kreisen“, wie die Schulkrankenschwester mit gerümpfter Nase zischt, den Zutritt zu verweigern. Dafür setzt man weiterhin auf Wechselunterricht: In der zweiten Stunde kommt ein anderes Fach dran als in der ersten, die dritte befasst sich wieder mit etwas anderem und so weiter. In den Pausen wird regelmäßig gelüftet, zum Beispiel das Geheimnis, wie die Vorfahren der Schüler an ihr Vermögen gekommen sind.
„Wenn Sie neben diesem ‚Mens sana in corpore sano‘-Prinzip auch noch das erstklassige akademische Niveau unserer Anstalt bedenken, sind die hohen Gebühren gerechtfertigt“, rechtfertigt Konrektor Georg Mayer die hohen Gebühren. Neben BWL, Management, Marketing, Führungstechnik, Börsenkunde und Steuerhinterziehung spiele auch klassische humanistische Bildung eine Rolle. So sei es etwa für alle verpflichtend, bis zum Abitur mindestens ein Buch gelesen zu haben.
„Ich habe mir ‚Atlas Shrugged‘ vorgenommen und bin schon beim Vorwort“, strahlt Mayer, „sehr beliebt sind auch die Werke von Carsten Maschmeyer und Frank Thelen.“ Wer sich, wie der 13-jährige Julius v. R., darüber hinaus für Orchideenfächer wie Geschichte oder Kunsterziehung interessiert, wird in der hauseigenen Bibliothek fündig – zumindest werktags ab 18 Uhr, davor finden in den Gängen Duelle, Mensuren und satanische Initiationsriten statt. „Mit diesem Bildband kann ich mein geografisches Wissen auffrischen“, freut sich Julius v. R. über seinen neuesten Fund, ein Exemplar von „Abessinien bis Zaire – das moderne Afrika“.
Insgesamt wird auf Krampenzorn allerdings wenig gelacht. Humor und sonstige Zeichen von Charakterschwäche sind von vornherein ein Ausschlusskriterium. Außerdem muss jedes Kind als Teil der Bewerbung die sogenannte Psychopathen-Checkliste nach Robert D. Hare ausfüllen: Nur wer zu mindestens 90 Prozent als Psychopath/in eingestuft wird, bekommt die Zulassung. Und wer dreimal in einem Semester über die Stränge schlägt, landet im Karzer, so wie der 14-jährige Julius M., der heute mit einem einfachen statt mit einem doppelten Windsorknoten im Unterricht für Praktikantenausbeutung erschienen ist.
Gertenhiebe für Fehlverhalten
„Wir sind zwar eine Schule in freier Trägerschaft, das heißt aber nicht, dass man seinen Schlips frei tragen darf“, schilt Konrektor Mayer den Delinquenten. „Halten zu Gnaden“, wehrt sich dieser, „mein Fehlverhalten zieht laut Internatsgesetzbuch neben der Einkerkerung zehn Gertenhiebe auf die ausgestreckten Finger nach sich. Wären Sie so freundlich, die Strafe augenblicklich und persönlich zu vollstrecken?“ – „Na schön“, räuspert sich Mayer, „aber nur, weil du mein Sohn bist!“
Wer in der rauen Geschäftswelt überleben will, der lernt es hier. Aber ist es nicht unbestreitbar, dass in einem solchen Umfeld zwangsläufig Dünkel kultiviert wird? „Hä? Hier wird überhaupt kein Getreide angebaut!“, mault Julius G., gerade 15 geworden. „Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe Reitunterricht. Du, Hausmeister! Auf die Knie!“
Die Schulkrankenschwester, die auch die ethisch-soziale Orientierung ihrer minderjährigen Klientel im Auge hat, wiegelt ab: „Alle Naslang gibt es Diskussionen über ‚Problemschulen‘ und ‚Brennpunkt-Kieze‘, von solchen Dingen hören Sie aus der Welt der Internate garantiert nichts. Weil wir alles erfolgreich vertuschen. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit der Odenwaldschule – das ist was gaaaanz anderes!“
Fakt ist: Wo in öffentlichen Schulen über Maskenpflicht, Luftfilter und regulären Unterricht gestritten wird, lehnt man sich auf Schloss Krampenzorn entspannt zurück. Zumindest bis man von einem der heimischen Gespenster, die hier spuken, erschreckt wird. Ein Preis, den allerdings immer mehr Eltern nur allzu gern zahlen.
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