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Putins Gastbeitrag in der „Zeit“Wladimirs Instrumentenkasten

Anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 meldet sich Präsident Wladimir Putin zu Wort.

Wladimir Putin am Rande der Militärparade zum Tag des Sieges am 9. Mai Foto: Mikhail Metzel/Sputnik/reuters

W ie schön, dass es hierzulande noch Qualitätsmedien gibt, wie Die Zeit. Die Wochenzeitung gewährte ihren Le­se­r*in­nen in dieser Woche einen intimen Einblick in die Gedankenwelt von Wladimir Putin, indem sie einen Gastbeitrag des russischen Präsidenten abdruckte. „Offen sein, trotz der Vergangenheit“ ist der Text überschrieben, und der Titel hält, was er verspricht. Der Große Vaterländische Krieg habe 1941 für das sowjetische Volk begonnen, erfahren wir. Das werden Länder wie Estland, Litauen und Lettland mit großem Interesse zur Kenntnis nehmen, die bereits ein Jahr früher „mit sanften Druck“ in die große proletarische Vielvölkerfamilie eingemeindet wurden.

Wahrscheinlich sind Hinweise wie diese gemeint, wenn Putin über Versuche spricht, die Kapitel der Vergangenheit neu zu schreiben – ein Feld, in dem sich der Kremlchef über die Jahre profunde Kenntnisse angeeignet hat. Diese geballte Kompetenz bekommen vor allem russische His­to­ri­ke­r*in­nen zu spüren, die darum bemüht sind, Licht in das Dunkel der Stalinzeit zu bringen und deswegen nicht selten im Gefängnis sitzen.

Geradezu bestechend sind Putins Ausführungen zur Gestaltung eines Großen Europa, das durch gemeinsame Werte und Interessen zusammengehalten wird – denn da gibt es so einiges auf der Habenseite, weshalb das „großartige Projekt“ Nord Stream auch nicht unerwähnt bleibt. Vor allem die deutsche Bundesregierung kann es ja kaum erwarten, dass es losgeht. Dass dabei Länder wie die Ukraine unter die Räder kommen – Schwamm drüber. Auch bei den viel beschworen Werten kommt man sich näher, wie das Beispiel von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zeigt. Der bedient sich bekanntermaßen ja gern mal aus Wladimir Putins Instrumentenkasten, um seine illiberale Demokratie fit für die Zukunft zu machen.

Es wäre eigentlich schön, wenn den russischen Le­se­r*in­nen eine Erwiderung auf die Ausführungen ihres weisen „Leaders“ zuteil würde. Unabhängige russische Plattformen scheiden als „ausländische Agenten“ leider aus. Aber in dem vielfältigen Bestand staatstreuer Medien müsste sich doch ein Plätzchen finden lassen. Und dann bitte unzensiert. Ganz im Sinne: „Offen sein, trotz der Vergangenheit.“

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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7 Kommentare

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  • Der Tonfall aber auch die Art wie hier geschichtliche Ereignisse durcheinander geraten, werden kommt mir angesichts der 27 Mio. Menschen die beim Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion ermordet wurden einfach falsch vor. Es deprimiert mich, darauf auch noch hinweisen zu müssen. Warum könnt ihr nicht einfach trauern?

  • Putin verzerrend zu zitieren, ist kennzeichnend für das Niveau, auf dem in der TAZ mit ihm umgegangen wird. Putin beginnt seinen Text mit folgendem Absatz:



    "Vor genau 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfielen die Nationalsozialisten, nachdem sie ganz Europa erobert hatten, die UdSSR. Für das sowjetische Volk begann damit der Große Vaterländische Krieg, der blutigste in der Geschichte unseres Landes. Dutzende Millionen Menschen starben. Wirtschaft und Kultur trugen immense Schäden davon."



    Und später heißt es:



    "1970 wurde zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik mit der Vereinbarung über langfristige Gaslieferungen nach Europa ein »Deal des Jahrhunderts« geschlossen. Damit wurden der Grundstein für eine konstruktive Interdependenz gelegt und im Folgenden viele großartige Projekte, wie zum Beispiel Nord Stream, ermöglicht." M. L.: Da steht Nord Stream, nicht Nord Stream 2, worauf obiger TAZ-Kommentar verlinkt.



    Daß, wie Putin, schreibt, die USA einen Staatsstreich in der Ukraine organisiert haben, worauf die Geschehnisse um die Krim eine Reaktion waren, ist unbestreitbar. Wer Putin nicht glaubt, kann das denkbar prominent und autoritativ hier nachlesen:



    John J. Mearsheimer | How the West Caused the Ukraine Crisis | Foreign Affairs. 2014. Available at: www.foreignaffairs...is-the-wests-fault

    • @jghsr:

      Danke!

  • Einmarsch der Roten Armee in Polen (Ribbentrop-Molotow-Pakt aka Hitler-Stalin-Pakt): 17. September 1939, noch während die Wehrmacht (praktischerweise) die polnische Armee überrannte (diese ergab sich zwei Tage später unter dem Eindruck eben jenes sowjetischen Einmarsches).

    Nach Putins Meinung nicht Teil des 2. Weltkrieges ("... begann 1941"). Wohl, weil man zu dem Zeitpunkt offiziell (oder eher inoffiziell) noch beste Freunde mit den Deutschen war. Stalin selbst hielt den deutschen Überfall für ein Ding der Unmöglichkeit, selbst als sich die Deutschen schon an der Grenze sammelten. So dicke war man.

    Geheime Militärkooperation zwecks Panzerausbildung und -entwicklung von Deutschland und der Sowjetunion ("Panzerschule Kama"): spätestens ab 1929.

    Systematische Ausplünderung der Ukraine (Holodomor): ab 1932. Ging ums Getreide, genau wie später bei den Deutschen (Hungerplan).

    Man stellt doch frappierende Ähnlichkeiten bei den Interessen beider Seiten fest, auch geographisch betrachtet (Baltikum, Polen, Ukraine). 1939 verstand man sich noch prächtig - gemeinsamer Einmarsch in Polen lief wie geschmiert, praktisch eine gleichzeitige Militäraktion.

    Herr Putin macht es sich mit seiner Version des 2. Weltkriegs doch sehr einfach: alles vor 1941 weglassen - danach alle Russen Helden.

    Aber er glaubt ja auch sonst an alternative Fakten - z.B. daß die Krim zu Russland gehört nur weil er dort seine Soldaten "in Urlaub" schickt.

    • @kditd:

      Ihre Meinung in allen Ehren aber das was in Russland als Großer Vaterländischer Krieg bekannt ist begann mit dem Überfall Deutschlands auf die Sovjetunion 1941 und ist nicht gleichbedeutend mit dem 2. Weltkrieg.

      Da ist nichts mit alternativen Fakten.

  • Vorbei sind die Zeiten, wo die Verbrechen von Nazideutschland und das damit verbundene Leid vieler millionen Menschen in aufrichtiger, demütiger und denkwürdiger Weise in Erinnerung gerufen wurden. Mit zunehmendem Geschichtsrevisionismus und der Wiedererstarkung Gesamtdeutschlands zum aggressiven und militanten Mitbestimmer wird das Bekenntnis zur Schuld umgedreht in eine Anklage gegen die damaligen Opfer, die man der Einfachheit halber subsumiert unter den Namen Putin.



    Endlich können wir uns in der Anklage gegen Russland wieder frei fühlen und uns als die besseren Menschen verstehen, die wie selbstverständlich das Recht haben, weil sie es brechen, ungehemmt und jenseits von Völkerrecht wieder andere Länder zu bestrafen oder sogar mit Bombenangriffen zu zerstören.



    Ob zu Wilhelm II Zeiten oder durch die Faschisten, immer waren wir, die Deutschen, die Guten und die anderen die Bösen. Immer war unser Militarismus begründet durch Feinde, die wir selbst dazu erkoren haben. Keine Begründung scheint schäbig genug zu sein. Selbst Auschwitz wurde instrumentalisiert, um Serbien zu bombardieren.

    Der 80. Jahrestag ist für mich ein Tag zum Fremdschämen über ein Deutschland, das wieder dort anknüpft, wo meine Generation es nie wieder haben wollte.

    • @Rolf B.:

      Ich sehe es wie Sie. Die Kolumne hat mich ziemlich erschüttert. Nein, so sollte nicht über das Thema geschrieben werden.