Putins Strategiepapier: Vom Westen dauerhaft bedroht
Nicht zuletzt als Abgrenzung zum Westen hält Moskau am Vertrauten fest. Persönliche Freiheiten und Freizügigkeit stehen nicht auf Putins Agenda.
W ladimir Putin legte ein neues Sicherheitskonzept vor. Das letzte stammte aus dem Jahr 2015. Viel hat sich seither nicht verändert. Klar ist jedoch: der Westen bleibt in der Wahrnehmung des Kreml eine Bedrohung. „Die Verwestlichung der Kultur verstärkt die Gefahr, dass die Russische Föderation ihre kulturelle Souveränität verliert“, steht in Putins 44 Seiten umfassendem Strategiepapier. Russlands traditionelle geistig-moralische Werte werden vom Westen „aktiven Angriffen“ ausgesetzt, behauptet das Pamphlet.
Es klingt etwas abenteuerlich, da Russland durch ständige Störmanöver auf der Weltbühne um maximale Aufmerksamkeit buhlt. Täte es das nicht, würde es weniger wahrgenommen. Das würde das russische Selbstverständnis indes nicht ertragen. Russland fühlt sich seit Jahrhunderten bedroht. Im 19. Jahrhundert spielte sich der Konflikt im Inneren des Zarenreiches als Kampf zwischen beharrenden Kräften des Slawophilentums und auf Modernisierung setzenden Westlern ab.
Diese Auseinandersetzung wirkt auch heute scheinbar weiter. Obwohl der Kreml die Konzepte der „nachholenden Modernisierung“ aufgegeben und sich mit gesellschaftlicher „Rückständigkeit“ abgefunden hat. Wer ins Hintertreffen gerät, reagiert oft aufgebracht und aggressiv. Persönliche Freiheiten werden in Moskau als Bedrohung gewertet, Freizügigkeit gilt nicht selten als Sittenlosigkeit.
Forderungen der Opposition nach politischer Beteiligung vor den Dumawahlen im September fallen unter Extremismusverdacht. Die Auseinandersetzung zwischen dem vermeintlich traditionellen „russischen Sonderweg“ und dem Westlertum, der wie seit 200 Jahren in der neuen Strategie anklingt, ist nur vorgeschoben. Auch EU und USA bedrohen Moskaus Überlebensstrategie mit Hilfe fossiler Brennstoffe zurzeit nicht.
Russland geht es nicht um Fortschritt oder neue ökonomische und zivile Perspektiven. Es fürchtet Veränderungen. Jede Neuerung schürt die Angst vor Verwerfungen. Die Vergütungsmethoden innerhalb der Nomenklatura könnten durcheinandergeraten. Daher vermeidet Moskau grundsätzlich lieber Innovationen. Ablehnung des Westens, Bedrohung aus dem Ausland, Verwestlichung der Kultur sind nur Girlanden eines Systems, das sich einer Erneuerung verweigert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus