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Arbeitsbedingungen beim OnlinedienstDie prekären Helden

Der Lieferdienst Durstexpress hat mit dem Konkurrenten Flaschenpost fusioniert. Dies ist jedoch kein Vorteil für die Mit­ar­bei­te­r*in­nen.

Ein Mitarbeiter der Firma Flaschenpost bei der Auslieferung in Berlin Foto: Simon Zamora Martin

Die Geschäftsidee von Flaschenpost ist: schwere Getränkekisten bis an die Wohnungstür bringen. Auch in die fünften Etage zu Supermarktpreisen, ohne Liefergebühr. Nicht nur die Coronapandemie kurbelte das Geschäft der Getränkelieferdienste zuletzt kräftig an. Ende 2020 kaufte der Lebensmittelkonzern Dr. Oetker Flaschenpost – nach Medienmedienberichten für rund 1 Milliarde Euro – und steckte seinen eigenen Lieferdienst Durstexpress unter dessen Dach. Doch die Mit­ar­bei­te­r*in­nen profitieren vom Boom der Branche nicht.

„Zufrieden mit den Arbeitsbedingungen waren wir auch bei Durstexpress nie“, sagt der frisch gewählte Berliner Betriebsrat Matthias Kobsa der taz, „aber im Vergleich zu Flaschenpost war das der reinste Luxus.“ Nicht nur in Berlin wollen sich die Beschäftigten organisieren, sondern auch in Dresden, Leipzig, Düsseldorf und Köln. Flaschenpost-Sprecherin Sabine Angelkorte versichert: „Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Betriebsrat gründen möchten, stehen wir dem selbstverständlich offen gegenüber.“ Doch zuletzt war der Umgang des Unternehmens mit Mitarbeiter*innen, die einen Betriebsrat gründen wollten, eher geprägt von Einschüchterungen, Anklagen und Entlassungen, wie Mitarbeitende an mehreren Standorten der taz berichten.

Ein zentraler Kritikpunkt der Betriebsräte ist das Lohnsystem. Die „Helden“, wie Flaschenpost seine Fah­re­r*in­nen auf der Webseite betitelt, würden „bis zu 13,90 Euro“ pro Stunde verdienen. Das wären immerhin 15 Cent mehr, als man bei Durstexpress bis Januar bekam. Arbeitsverträge und Vergütungstabellen zeigen jedoch, dass offenbar nur ein Bruchteil der „Helden“ diesen Betrag erreichen kann. Denn es gilt ein leistungsabhängiges Bonus-System. Der Basis-Stundenlohn für Neue beträgt in Berlin 10,60, nach zwei Jahren erst liegt er bei 11,40 Euro. Auf die genannten 13,90 Euro kommt man nur mit einem Leistungsbonus von 2,50 Euro – und den gibt es nur für die schnellsten 5 Prozent der Fahrer*innen.

Das flexible Modell

Bei den Beschäftigten im Lager sieht es noch schlechter aus. Um den Bonus von dort maximal 1,50 Euro zu bekommen, müssen sie nach Auskunft des Berliner Betriebsrats derzeit 150 Kisten pro Stunde schleppen: Ein- und Ausladen, Lieferungen zusammenstellen, Leergut abwickeln. Wobei für den Bonus wohl nur zusammengestellte Lieferungen zählen. Das ist gut und gerne eine zweistellige Zahl an Tonnen Gewicht, die in einer Acht-Stunden-Schicht zu schleppen sind. Was durch das Bonussystem zudem nötig wird, ist die Überwachung jedes Arbeitsschritts.

Ein weiterer Kritikpunkt ist das prekäre Schichtmodell. Vollzeitverträge garantieren lediglich 20 Stunden die Woche, in vielen Teilzeit- und Minijobverträgen werden gar keine Schichten garantiert. Dreimal täglich kommen E-Mails mit freien Schichten, auf die Mit­ar­bei­te­r*in­nen sich dann bewerben müssen. Für Studierende mag das flexible Modell attraktiv sein. Doch für Menschen, für die ihre Arbeit bei Flaschenpost die einzige Einnahmequelle ist, ergeben sich viele Probleme aus der Flexibilität.

Zwar berichten manche Mitarbeitende auch, mit Schichtangeboten überhäuft zu werden – aber im Krankheitsfall zahlt Flaschenpost laut Angabe von Mitarbeitern nur die vertraglich garantierten Arbeitsstunden. Dafür unterschreiben Ar­beit­neh­me­r*in­nen bei Flaschenpost eine Entbindung der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber, der taz liegt ein Arbeitsvertrag vor, in dem eine solche Klausel enthalten ist. Auf eine Bitte zur Stellungnahme hierzu reagiert das Unternehmen nicht.

Nur befristete Arbeitsverträge

Für Betriebsratsmitglied Martin in Düsseldorf sind jedoch die Befristungen das größte Problem. Von den rund 370 Beschäftigten an Martins Standort sind laut Angaben des Betriebsrats nur sieben Personen unbefristet angestellt. „Wenn du verlängert werden möchtest, überlegst du dir dreimal, ob du dich krankschreiben lässt oder nicht“, sagt Martin. Martins Namen haben wir geändert, er möchte nicht erkannt werden. Flaschenpost benutze eine Ausnahmeregelung für Start­ups im Teilzeit- und Befristungsgesetz, sagen der Betriebsrat und die Gastrogewerkschaft NGG, und könne deshalb vier statt nur zwei Jahre lang befristete Arbeitsverträge ausstellen.

Von den dreizehn nach­gewählten Betriebs­räten sind mittlerweile nur noch neun übrig

Auch für Betriebsratsarbeit sind die Befristungen ein Problem. Im April letzten Jahres wurde in Düsseldorf der erste richtige Betriebsrat bei Flaschenpost gewählt. Einen Kündigungsschutz gibt es nur für den Wahlvorstand und die offiziellen Kandidat*innen. Noch bevor die Kan­di­da­t*in­nen bekannt gegeben werden konnte, feuerte Flaschenpost am selben Tag acht Vorarbeiter, die sich an der Betriebsratsgründung aktiv beteiligten. Laut Angaben von Flaschenpost hätten die Leistung der Mit­ar­bei­te­r*in­nen nicht den Erwartungen erfüllt. Obwohl einige der Entlassenen erst kurz zuvor befördert wurden.

Es konnte trotzdem ein Betriebsrat gewählt werden, und Flaschenpost verlor vor dem Arbeitsgericht mit ihrer Klage gegen die Wahlen, aber deren befristete Verträge wurden alle nicht verlängert. Auf Nachfrage der taz äußert sich das Unternehmen hierzu nicht. Trotzdem fanden sich genug Kan­di­da­t*in­nen für eine Neuwahl, aber auch die blieb nicht lange bestehen. Gewerkschaftssekretärin Zayde Torun von der NGG sagt: „Von den dreizehn nachgewählten Betriebsräten sind mittlerweile nur noch neun übrig.“ Die Verträge der Betriebsräte seien nicht verlängert worden. „Wahrscheinlich müssen wir noch dieses Jahr Neuwahlen einberufen, weil bis dahin bis auf den Vorsitzenden alle entlassen beziehungsweise nicht verlängert sind.“

„Den Betriebsrat bekommen wir schon kaputt“

Am ehemaligen Berliner Durstexpress-Standort in Moabit stießen Kol­le­g*in­nen mit der Fusion Betriebsratswahlen an. Um die Fusion abzuwickeln, schickte Flaschenpost denselben Re­gio­nal­leiter, der in Düsseldorf versucht hatte, den Betriebsrat zu verhindern, nach Berlin. Dieser habe sich jedoch zunächst sehr kooperativ gezeigt. Der Betriebsrat und die NGG waren zuversichtlich, dass die Wahl ohne Probleme über die Bühne gehen würde. Doch eine Quelle aus dem Management berichtet der taz über eine Sitzung, wo sich der Regionalleiter mit ganz anderen Worten geäußert haben soll: „Den Betriebsrat bekommen wir schon kaputt.“

Nach der Wahl im April legte Flaschenpost auch in Berlin Rechtsmittel ein. Schon bei der Wahl des Wahlvorstands habe es Probleme gegeben, über die sich Flaschenpost damals jedoch nicht beschwerte. Damit „im Sinne der Mitarbeiter ein ordentliches Wahlverfahren sichergestellt wird“, klage das Unternehmen jetzt gegen die Wahl, wie Pressesprecher Martin Neipp mitteilt.

In Köln drohte das Unternehmen laut Aussagen von Beschäftigten bei Betriebsratsgründung mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen, falls Mit­ar­bei­te­r*in­nen an der Betriebsversammlung teilnähmen, und schickte loyale Mit­ar­bei­te­r*in­nen aus dem Management auf die Versammlung. Wenige Wochen nach der gescheiterten Betriebsversammlung in Köln wurde deren Initia­tor fristlos gekündigt: weil er wiederholt zu kurz Pause gemacht hätte. Über die konkreten Vorwürfe zum Umgang mit Betriebsräten wollte sich Flaschenpost nicht äußern. Man stehe Betriebsratsinitiativen selbstverständlich offen gegenüber, „eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit mit den Betriebsräten“ sei sehr wichtig.

Ein Griff in die Trickkiste

Mithilfe einer Briefkastenfirma in Österreich änderte Flaschenpost im Jahr 2019 ihre Rechtsform in eine europäische Aktiengesellschaft (SE). Ein Vorteil dieser Rechtsform: Das relativ weitreichende Recht, im Betrieb mitzubestimmen, gilt nicht für einen SE-Betriebsrat. Diese sind ein reines Informationsgremium. Drei Wochen nach der Umwandlung zur SE berichtete der Spiegel über ein internes Dokument von Flaschenpost, nachdem der zehnköpfige SE-Be­triebs­rat von nur einer Person von Flaschenpost Münster gewählt werden sollte. Ulf Henseline, Referatsleiter für die Getränkewirtschaft bei der Gastrogewerkschaft NGG, hat Erfahrungen mit SE-Betriebsratssitzungen gesammelt. „Es gab kaum Rückfragen, keinen Beratungsprozess oder konstruktive Diskussionen mit dem Ziel und dem Charakter einer Beteiligungskultur, wie wir sie bei der NGG aus anderen Gremien kennen.“

Die meisten Posten in SE-Betriebsräten von Personen aus dem Management besetzt. Arbeitgeber sprechen mit Arbeitgebern über Arbeitnehmerrechte. Wer in diesem SE-Betriebsrat sitzt, was sie machen und wie sie erreichbar sind, das wissen die Beschäftigten von Flaschenpost nicht.

Flaschenpost ist ein weiteres Beispiel für einen Arbeitgeber, der mit flexiblen Arbeitszeiten wirbt, wo die Flexibilität aber eigentlich nur dem Unternehmen dient. Hier unterscheidet sich Flaschenpost wenig von den anderen Unternehmen der sogenannten Gig-Economy. Dieser prekäre Sektor weitet sich immer weiter aus und ist für viele junge Ar­bei­te­r*in­nen – vor allem für Mi­gran­t*in­nen – eher zur Regel als zur Ausnahme geworden. Eine persönliche Perspektive oder Familie auf dieser prekären Grundlage aufzubauen ist schwierig.

Auch wenn Flaschenpost sich in Worten noch zur Sozialpartnerschaft bekennt, kündigen sie diese in ihren Taten auf. Gewerkschaften ziehen sich oft aus diesen prekären Bereichen zurück. Denn bei den schmalen Gehältern sind die Mitgliedsbeiträge zu klein, und die hohe Befristungsquote verhindert eine stabile, aktive Belegschaft. Umso erstaunlicher, dass sich junge Mitarbeitende der Gig-Wirtschaft dennoch für bessere Arbeitsbedingungen organisieren. Sei es bei Lieferando, Gorillas oder Flaschenpost.

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6 Kommentare

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  • Es gibt auch andere Getränkelieferdienste, nur sind die teurer. Für Leute mit "normalem" Einkommen jenseits Mindeslohn sollte die aber trotzdem bezahlbar sein. Es ist immerhin ein Mehrwert, wenn jemand die schweren Kisten liefert. Eine Dienstleistung eben, die auch fair entlohnt werden sollte.

  • mir sind diese ganzen Lieferdienste suspekt.



    Alle Firmen machen minus zu den aktuellen Bedingungen.



    Wenn die Firma jemals Profit machen will müssen die Löhne runter oder die Preise hoch.Welcher Kunde kauft das dann noch.



    Einfache Rechnung wird der Fahrer “normal” bezahlt kostet die Arbeitsstunde um die 40-50€ je nach Material Overheadeinsatz wenn der Fahrer 15min für Lieferung braucht kostet die Lieferung halt 10€-12,50€. (Essenlieferung bei Lagerhaltung noch mehr)



    Komischerweise haben aber Lokalpolitiker(z.B. Berliner Senat)nichts gegen solche aber gegen gut bezahlte Google/Amazon Mitarbeiter.



    Haben die lieber viele schlecht bezahlte Lieferfahrer in der Stadt als gut bezahlte in Software Firmen?

  • Hinzu kommt aber noch einmal das Trinkgeld das die Fahrer eralten. Das ind bestimmt 300 € im Monat. So lange ugelernte Kräfte nicht unter Mindestlohn bezahlt werden ist daran nichts zu beanstanden Und die schleppen n8cht alle 2 Minuten Kisten in die 4 Etage, sondern beliefernb drei bis 4 Kunden pro Stunde. Häuser mit 5 und mehr Etagen haben Aufzüge.Nein einfach ist die Arbeit nicht, nur eine Kassiererin die ununterbrochen an der Kasse sitzt hat den gleichen Lohn bekommt aber kein Trinkgeld.

    • @Dortmunder:

      Man kann sich auch alles schönreden. Mal mal eben spekulativ 300 Euro Trinkgeld dazurechnen. Kisten die Treppen hochschleppen ist Gift für den Rücken und wenn sie krank werden sie nur für die vertraglichen 20 Stunden bezahlt. Wer davon abhängig ist schleppt dann auch krank die Kisten, bis richtig schwere körperliche Schäden auftreten und dann gibts die Kündigung. Das ist ein ausbeuterisches Geschäftsmodel und wer dort bestellt unterstützt das. Geliefert wurden Getränke schon immer, musste nur entsprechend bezahlt werden.

      • @Andreas J:

        Ich sehe dies genau wie "Dortmunder"



        Das einzige was die Fahrer benötigen ist ein Führerschein. Egal ob Haupt, Real oder Gymnasialabschluss oder auch gar kein Abschluss, solang man soviel Deutsch kann, dass man sich auch mit der Oma an der Tür verständigen kann, gibt es keine weiteren Einstellkriterien. Dafür etwas über dem Mindestlohn und im Durchschnitt 1,50€ Bonus im Monat und wenn man freundlich ist 300-500€ Netto in die Tasche an Trinkgelder (aus eigener Erfahrung) monatlich, ist mehr als fair. Alle die sich darüber aufregen sollen mal in der Gastro arbeiten ;-).



        Krankentage werden nach den Durchschnittsstunden der letzten 7 Wochen berechnet, also wenn man im Durchschnitt 7,5 Stunden am Tag gearbeitet hat, bekommt man auch diese Zeit im Krankheitsfall bezahlt. (und nicht nur 20 Wochenstunden...)

        Erstmal selber dort arbeiten, ein eigenes Bild machen und dann nicht nur das schlechte sehen.

  • Sehr gut, dass die taz darüber berichtet.

    Ausbeutung in Deutschland, die vielen Millionen Menschen in prekären Lebensmodellen, die Notwendigkeit sich in Betrieben zu organisieren, Gewerkschaften - über all das hat man die letzten Jahre wenig gelesen.

    Frau Wagenknechts Buch scheint erste Früchte zu tragen.