Bau eines interreligiösen Gotteshaus: „Es gibt mehr Religionen in Berlin“

Am Donnerstag war die Grundsteinlegung für das „House of One“ in Mitte. Die taz hat mit den Protagonisten des Drei-Religionen-Projektes gesprochen.

Pfarrer Gregor Hohberg, Rabbiner Andreas Nachama, Imam Kadir Sanci bei der Grundsteinlegung Foto: Stefanie Loos

taz: Herr Hohberg, wir führen dieses Interview Mitte Mai, und in Israel und Palästina tobt die Gewalt. Angefangen hat die Eskalation wie so oft auf dem Tempelberg in Jerusalem. Verstehen Sie Menschen, die jetzt sagen: Ohne Religionen gäbe es mehr Frieden?

Pfarrer Gregor Hohberg, 1968 in Berlin geboren, studierte evangelische Theologie in Berlin und München, war Pfarrer am Berliner Dom und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Seit 2002 ist er Pfarrer der Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien, Ideengeber des „House of One“ und von Anfang an dabei.

Imam Osman Örs, 1979 in Bremen geboren, studierte Islamwissenschaft und Pädagogik in Göttingen und ist Theologischer Referent der Stiftung House of One.

Rabbiner Andreas Nachama, 1951 in Berlin geboren, leitete seit 1987 die Ausstellung „Topographie des Terrors“ und war von 1994 bis 2019 geschäftsführender Direktor der gleichnamigen Stiftung. Er ist wie Hohberg Teil des Präsidiums des House of One.(clp)

Gregor Hohberg: Ich kann das sehr gut verstehen. Der Gedanke liegt ja nahe, wenn man sieht, dass Konflikte und Gewalt häufig mit Religion verknüpft sind. Mich treibt die Frage schon lange um, weshalb das so ist und wie man dagegen vorgehen kann, denn ich sehe ja auch, was die Religion Gutes mit sich bringt. Ich denke, wenn man gläubig ist, ist das etwas, was sehr tief in die eigene Identität hineinreicht. Deshalb ist es aber auch etwas, was sich leicht triggern lässt, was Leidenschaften weckt und, wenn es unaufgeklärt und ideologisch-dogmatisch daherkommt, ausufern kann. Was wir mit dem House of One zu zeigen versuchen, ist, dass Religionen enorme Friedenskräfte haben. Wir wollen zeigen, dass wir tief verwurzelt sind in unserem Glauben, dass das aber nicht dazu führt, dass wir andere abwerten oder uns abschotten.

Wird Religion missbraucht, um politische Konflikte auszutragen? Oder ist sie selbst eine Wurzel des Konflikts?

Wo Politik die Religion nutzt, um Menschen auszugrenzen, bezieht man sich immer nur auf bestimmte Teile davon. Dass es diese Teile gibt, lässt sich nicht bestreiten. Unsere heiligen Schriften haben Stellen, die sich isolieren und dann gegeneinander verwenden lassen. Darum braucht Religion eine aufklärerische Seite, sie muss sich mit den Schriften auseinandersetzen und sie weiterentwickeln. Sie muss sich abgrenzen von eigenen Lehren, die in die Irre geführt haben.

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie Bilder sehen von Raketen der Hamas oder Soldaten in der Al-Aksa-Moschee?

Das ist ganz furchtbar. Ich versuche mich in die Lage der Menschen vor Ort zu versetzen und sehe: Wenn es erst mal so eskaliert ist, gibt es im Grunde nur noch Opfer auf beiden Seiten. Darum ist es ungeheuer wichtig, dass es gar nicht so weit kommt. Wenn erst einmal die Waffen sprechen, ist es wahnsinnig schwer, das wieder einzufangen.

Das Projekt „Drei Religionen. Ein Haus“ lautet der Slogan des Projekts „House of One“, das sich auf dem Petriplatz auf der Fischerinsel in Mitte erheben soll. Dort stand bis 1961 die Petrikirche, sie war die letzte einer Reihe von Kirchen, die seit ca. 1200 an diesem Standort errichtet wurden. Die Idee des „House of One“ wurde 2009 geboren, seit 2016 ist die „Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin“ Träger des Projekts. Hauptpartner sind die evangelische Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien, die Jüdische Gemeinde zu Berlin sowie das Abraham Geiger Kolleg Potsdam und der islamische Verein Forum Dialog.

Der Bau Das vom Berliner ArchitekturbürosKuehn Malvezzi entworfene Gebäude ist ein Hybrid aus Kirche, Synagoge und Moschee sowie einem öffentlichen Begegnungs- und Debattenraum. Im Untergeschoss werden die archäologischen Funde aus den früheren Petrikirchen gezeigt. Der Bau des House of One soll rund 47 Millionen Euro kosten. Davon wurden schon knapp 10 Millionen Euro durch Klein- und Großspenden gesammelt, das Land Berlin steuert 10 Millionen bei, der Bund 20 Millionen. Am 27. Mai war die Grundstein­legung, 2025 soll alles fertig sein. (clp)

Denken Sie, dass sich der Konflikt auch in Berlin weiter ausbreiten wird?

Eher nicht. Auch wenn es die Medien vielleicht nicht so wahrnehmen, gibt es hier viele Initiativen, die Dialog und nachbarschaftlichen Kontakt pflegen. Gerade in der Pandemie sehen wir häufig, dass etwa eine Kirchengemeinde Räume für eine Moscheegemeinde oder eine jüdische Gemeinde zur Verfügung stellt. Auf dieser Ebene gibt es viel Positives und Stabilisierendes.

Das House of One tritt oft aus solchen Anlässen an die Öffentlichkeit, etwa nach einem Terroranschlag, der in irgendeiner Weise mit Religion in Zusammenhang steht. Haben Sie Sorge, eine Art Feuerwehr zu werden?

Das ist ein Gedanke, mit dem wir uns beschäftigen. Meist werden solche Anfragen von außen an uns herangetragen. Einerseits ist es wichtig, darauf zu reagieren, weil sich darin ja das Bedürfnis zeigt, die andere, friedliche Seite der Religion zu sehen. Aber wenn man nur zu solchen Anlässen in Erscheinung tritt, wird man irgendwann eng damit verknüpft, und damit springt man zu kurz. Religion ist viel mehr. Darum suchen wir bewusst Anlässe, um dieses Muster zu durchbrechen. Wir haben etwa interreligiöse Gebete zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes und zum 30. Jahrestag des Mauerfalls angeboten.

Bis zur Grundsteinlegung des House of One hat es viel länger gedauert als geplant. Warum?

Das stimmt nur so halb. Wir hatten nie wirklich Zeitdruck, und die gut zehn Jahre, die seit den Anfängen vergangenen sind, waren für uns sehr wertvoll. Das Zusammenwirken und das gegenseitige Vertrauen sind in dieser Zeit wunderbar gewachsen, und das ist die Basis, die wir brauchen, um gemeinsam ein Haus zu bauen. Andererseits haben wir uns auch aus taktischen Gründen ehrgeizige Ziele beim Spendensammeln gesetzt, und ja, es ging nicht immer ganz so schnell. Ich würde es so sehen: 2009 gab es weder das Grundstück noch Mitarbeiter noch einen einzigen Cent. Heute haben wir Geld für ein tolles Bauwerk, eine Stiftung, ein tolles Team, das Grundstück wurde uns in Erbbaupacht übertragen. Das ist sehr viel für diesen Zeitraum.

Lassen Sie uns kurz zurückblicken – was war 2009?

Damals wurde die Frage immer virulenter, was mit dem Grundstück der ehemaligen Petrikirche geschehen soll, dem ältesten heiligen Ort Berlins. Wir sammelten dann auf einer Gemeindeversammlung Ideen, was auf diesem Platz Neues entstehen könnte. Ich habe die Idee eingebracht, etwas mit mehreren Religionen gemeinsam zu machen. Das fand großen Anklang. Denn die Gesellschaft hat sich verändert: Die Mehrheit ist säkular, gleichzeitig gibt es mehr Religionen in Berlin. Und wir als Gemeinde brauchten neben Marien- und Parochialkirche keine weitere Kirche. Wir haben dann Partner gesucht und diese in der Jüdischen Gemeinde, dem Geiger Kolleg und dem Forum Dialog gefunden. 2011 gründeten wir den Verein, seit 2016 gibt es die Stiftung.

Seit 2014 sammeln Sie per Crowdfunding Geld für den Bau. Es hat ja eine symbolische Funktion, wenn ein Projekt aus der Gesellschaft heraus getragen wird. Dafür hat es aber nicht gereicht: Rund zwei Drittel der veranschlagen 47 Millionen Euro steuern der Bund und das Land bei. Ist das nicht ein symbolisches Scheitern?

Nein, wirklich nicht. Sie haben Recht, dass es beim Crowdfunding auch darum ging, die Idee zu verbreiten. Das hat aus unserer Sicht sehr gut geklappt, immerhin sind wir ein kleiner Verein, keine Firma mit großer Marketingabteilung. Bis zur Stiftungsgründung haben wir alle fast nur ehrenamtlich gearbeitet. Trotzdem haben wir über 1.000 Einzelspender aus rund 60 Ländern, und es gab auch im Nahbereich viel Zuspruch für uns von religiösen und religionslosen Menschen. Außerdem haben wir bereits mehrere Partnerprojekte, die die Idee aufgreifen und weiterentwickeln – unsere Hauptpartner sind in der Zentralafrikanischen Republik, in Georgien und in Haifa in Israel. 2020 haben wir eine Mehrreligionshaus-Konferenz gegründet, bei der alle Projekte zusammenkamen, die ähnlich unterwegs sind.

Modell des „House of One“ Foto: Stefanie Loos

War es nicht dennoch die Hoffnung, dass die gesamte Summe durch Crowdfunding zusammenkommt?

Nie wirklich. Der Architekturwettbewerb war ja ganz frei, wir wollten, dass die Büros ihre Ideen ohne finanzielle Begrenzungen entwickeln konnten, weil es eine völlig neue Bauaufgabe war. Am Ende zeigte sich, dass ein so komplexer Bau eben auch viel kostet. Da war uns klar, dass es auf allen Ebenen nötig sein wird, Geld einzusammeln, von Klein- und Großspendern und auch durch staatliche Förderung.

Wie kann Ihr Projekt einen gesellschaftlichen Prozess anstoßen?

Ich denke, jedes Gespräch, das wir führen, jedes Gebet, das wir anbieten, führt dazu, dass die Gesellschaft sich in kleinen Schritten verändert, auf dem Weg bleibt zu einem friedlichen Miteinander. Dass daraus eine Welle wird, die alles erfasst – das wäre ja das Schönste, was passieren kann, aber das hat man nicht in der Hand. Trotzdem: Wenn wir unsere Sache hier gut machen, wird sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn das Haus in vier Jahren eröffnet, wird hier von morgens bis abends ein sichtbarer, offener Dialog von und mit den Religionen stattfinden, und wir erwarten, dass sich noch mehr Nachahmer finden.

Wird das Haus ein touristischer Anziehungspunkt?

Wir denken schon, ja. Das hat auch mit seiner Lage zu tun: Wir sind hier auf der südlichen Hälfte der Museumsinsel, unweit des Humboldtforums, und diese Orte werden natürlich von vielen Touristen aufgesucht. Aber das ist auch völlig in Ordnung, wir wollen ja zeigen, was wir machen.

Sehen Sie ein Bedrohungsszenario für das House of One?

Wir hoffen, mit so wenig Sicherheitsmaßnahmen wie möglich auszukommen. Das Haus wird davon leben, dass es für alle, die am Gespräch interessiert sind, ohne große Hürden offen ist. Das funktioniert aber nur, wenn die Gesellschaft, die uns umgibt, das mitträgt und mitgeht.

Gregor Hohberg

„Wir repräsentieren nicht das Ganze. Aber wir verpflichten uns, andere, die mitmachen wollen, einzubinden und nicht auszugrenzen“

Ihr islamischer Partner, das kleine „Forum Dialog“, ist der Gülen-Bewegung zuzurechnen, die von der Erdogan-Regierung der Türkei als terroristisch bezeichnet wird.

Die Religionen in Deutschland sind sehr unterschiedlich organisiert. Manche würden gerne das Muster der Kirchen auf alle übertragen, aber das passt nicht: Kirchen sind gewachsene Institutionen, in denen alles streng geregelt ist, ob im Verhältnis zum Staat oder untereinander, wo es klare Hierarchien gibt. Dagegen sind die Muslime in Deutschland über kleine Vereine oder Vertreterverbände organisiert, die sich teilweise in Konflikten miteinander befinden. Wir haben am Anfang sehr offen mit allen geredet, um auszuloten, wer der richtige Partner ist. Es musste jemand sein, der bereit ist, mit jüdischen Partnern zusammenarbeiten und mit ihnen öffentlich aufzutreten, ohne mit der Wimper zu zucken – für einige keine ganz leichte Vorstellung. Ich sehe es so: Wir sind eine Basisbewegung, drei Gemeinden, die sich auf den Weg machen. Wir repräsentieren nicht das Ganze. Aber wir verpflichten uns, andere, die mitmachen wollen, einzubinden und nicht auszugrenzen. Für viele muslimische Gemeinden ist das eine große Herausforderung, aber das Forum Dialog ist da sehr positiv und aktiv.

Wie gerufen kommt Imam Osman Örs hinzu. Er nimmt Wasser, aber keinen Kaffee: Kurz nach Ende des Ramadan lässt er es damit noch langsam angehen, sagt er.

Herr Örs, ist die Präsenz des Forums Dialog im House of One ein Problem für andere Muslime?

Osman Örs: Zum einen ist die Frage der Repräsentativität nicht nur ein Problem unserer Gemeinde, sondern der muslimischen Gemeinschaft insgesamt. Selbst die Islamverbände repräsentieren ja weniger als 20 Prozent aller Muslime in Deutschland. Wir selbst sehen uns als einen Teil des Mosaiks der Vielfalt. Unsere Rolle im Geiste des Projekts ist es, eine offene Haltung gegenüber anderen Gemeinden zu zeigen. Die Geschehnisse in der Türkei haben uns natürlich zurückgeworfen, die Stigmatisierung von der türkischen Seite her macht es schwieriger, Brücken in die türkische Community zu bauen. Trotzdem haben wir es durch die Pflege des innermuslimischen Dialogs über die Jahre geschafft, andere Gemeinden mit an Bord zu holen. Ein Beispiel: Bei einem multireligiösen Friedensgebet anlässlich der Anschläge in Hanau waren erstmals seit Langem fünf weitere VertreterInnen anderer muslimischer Gemeinden beteiligt, unter anderem deutsche, pakistanische, arabisch-sprachige Muslime sowie muslimische Sinti und Roma. Das gibt mir Zuversicht. Im Jahr 2018 gab es einen Workshop mit sunnitischen und schiitischen Theologinnen und Theologen, um herauszufinden, wie die Moschee im House of One gestaltet sein muss, damit sich Schiiten wie Sunniten darin wohlfühlen. Wir werden es sicher nicht schaffen, die Gesamtheit der Muslime mitzunehmen, aber ein Gutteil wird sich mit dem Projekt anfreunden, Brücken werden gebaut werden.

Ist es für manche Gemeinden problematisch, wenn bestimmte andere Gruppen denselben Raum nutzen?

Keineswegs. Der Raum, die Moschee, steht allen Musliminnen und Muslimen grundsätzlich offen. Was die Liturgie anbelangt: Es wird Momente geben, wo wir gemeinsam beten, und andere, wo wir nebeneinander oder nacheinander beten. Dies gründet auf den theologischen Feinheiten und verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Islams.

Osman Örs

„Extremistische Gruppierungen werden es schwer haben, Gast im Haus zu sein“

Gibt es Gruppen, mit denen Sie Ihre Räume nicht teilen würden?

Unsere Charta listet Punkte auf, denen man verpflichtet sein muss: gegenseitigen Respekt zu pflegen, den Raum nicht zu politisieren, nicht missionarisch tätig zu sein. Insofern disqualifizieren sich einige Gemeinden. Extremistische Gruppierungen werden es schwer haben, Gast im Haus zu sein.

Jetzt ist auch Rabbiner Andreas Nachama dabei – als langjähriger Leiter der „Topographie des Terrors“ das prominenteste Gesicht in der Runde.

Lassen Sie uns mal über religiöse Inhalte sprechen. In der christlichen Tradition spielt die Figur Jesus eine zentrale Rolle. Für Sie, Herr Hohberg, ist Jesus Gott. Für Sie, Herr Örs, ist er ein Prophet, aber eher eine Randfigur, für Sie, Herr Nachama, allenfalls ein falscher Messias. Wir geht man damit um?

Andreas Nachama: (lacht) Locker. Ich würde sagen: Für uns ist Jesus von Nazareth eine historische Gestalt, ein jüdischer Gelehrter, der dann eine andere Bedeutung bekommen hat. So etwas können wir ja auch in der Gegenwart beobachten, mit der Sekte der Chabad, die den Rabbiner Menachem Schneerson als Messias ansehen. Das war damals so ähnlich. Leider können wir in 500 Jahren nicht mehr hier sitzen, um zu sehen, ob jemand, der sich heute Messias nennt, dann doch keiner war, oder ob sich diese Bewegung verfestigt hat. So vieles entwickelt sich über die Zeit hinweg. Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 hat die altisraelische Opferregion zwei neue Ausformungen: das rabbinische Judentum und das Christentum. Und einige Jahrhunderte später entstand mit dem Islam eine dritte Variante. Ich betrachte all das mit großem Respekt und Interesse, gerade auch als Historiker.

Hohberg: Sie sprechen einen der größten Unterscheidungspunkte zwischen uns an. Zum eine ist Jesus als Jude geboren und gestorben, zum anderen ist er einer der bedeutendsten Propheten im Islam. Für uns Christen ist er wahrer Mensch und wahrer Gott – da ist klar: Das kriegen wir nicht unter ein Dach. Aber in unseren Religionen gilt, dass wir Menschen sind, die sich Fragen stellen und nach dem Sinn des Lebens suchen. Auf die letzten Fragen haben wir keine Antworten, da müssen wir demütig bleiben, die liegen bei Gott. Das ist, was uns eint. Deshalb können wir unsere Glaubensüberzeugungen leben und respektieren, dass es daneben andere gibt. Unsere Aufgabe ist, friedlich damit umzugehen, uns nicht über andere zu erheben.

Örs: Dem kann ich mich nur anschließen. Wir haben nicht das Recht, zu urteilen, das endgültige Urteil obliegt Gott. Aber natürlich ist es für uns bereichernd, eine Person neu zu entdecken, sie aus koranischer Perspektive zu betrachten. Dort gibt es ja Kritik gegenüber der Wahrnehmung von Jesus als Gottes Sohn – so wie wir Mohammed als Menschen wahrnehmen und nicht vergöttlichen sollen. Gleichzeitig finden wir eine Wertschätzung für ihn als Mensch und für seine Mutter, die als einzige Frau im Koran namentlich Erwähnung findet. Seine Geburt kommt als Wunder im Koran genauso vor wie in der christlichen Tradition.

Die Geschichten von Jesus im Neuen Testament, seine Aussagen, haben die für Sie eine Bedeutung?

Örs: Das Studium des Neuen Testaments ist nicht Teil der islamischen Theologie oder Ausbildung, aber es gibt in der Tradition der Koranauslegung auch die Exegese der jüdischen und christlichen Quellen – Schar’u man qablana, die „Scharia der Vorangehenden“. Da schaut man, wie Geschichten, die im Koran angestoßen werden, in der Bibel weitererzählt werden. Das wurde schon in den frühesten Zeiten des Islam gemacht, ist aber heute vielen nicht mehr so bekannt. Es ist also etwas, was neu entdeckt werden muss.

Andreas Nachama

„Wir werden ganz sicher keine Esperanto-Religion schaffen, wir sind einfach beieinander, jeder in seiner Tradition“

Ihr Miteinander soll bereichern. Was mich irritiert, wenn ich über Ihr Projekt lese, ist die Sorge, dass sich da auf keinen Fall etwas vermischen darf.

Nachama: Wenn man so nah beieinander ist wie wir, gibt es zwei Varianten: Die eine ist, dass man die eigene Tradition neu entdeckt, wenn man sieht, was der andere tut. Auf der anderen Seite sieht man Dinge beim anderen, die Eindruck auf einen machen. Ein vielleicht belangloses, aber schönes Beispiel: Wenn wir bei muslimischen Freunden eingeladen sind, gibt es immer etwas Süßes. Ich finde das sehr schön, und als ich noch Direktor der „Topographie“ war, habe ich mir das abgeguckt und hatte eine Schale mit Schokolade auf dem Tisch. Das ist kein Teil der Religion, sondern des kulturellen Backgrounds, aber so lange sind wir ja auch noch nicht zusammen. Man sollte diese Frage auch nicht ständig stellen, sondern einfach schauen, was passiert, wenn wir in einem Haus sind. Wir werden ganz sicher keine Esperanto-Religion schaffen, wir sind einfach beieinander, jeder in seiner Tradition.

Örs: Ich denke, es ist eine Bereicherung, weil man Zugang zur Gefühlswelt und Spiritualität des anderen bekommt. Man teilt etwas, auch wenn die Inhalte unterschiedlich sind: Das ist ein Moment der Wertschätzung und der Empathie. Zum anderen ist es eine Einladung, zu reflektieren, vielleicht auch die eigenen Quellen neu zu lesen. Man merkt auf einmal, dass im Koran Moses, Jesus und Maria deutliche Erwähnung finden, dass es Berührungspunkte gibt. Natürlich wollen wir unsere Unterschiede nicht wegdiskutieren, die sind da, und wir wollen nichts Neues schaffen. Aber es gibt eben auch die verbindenden Elemente, und die zu entdecken, ist etwas Schönes.

Hohberg: Die Sorge vor Vermischung ist nicht meine, aber es gibt sie, und das ist auch nicht verwunderlich. Derzeit sieht man uns immer zu dritt, und obwohl wir selbst genau sehen, dass die Unterschiede trotzdem groß und dabei wertvoll und bereichernd sind, kann es aus der Ferne wirken, alles ob wir da etwas zusammenwerfen. Es bereitet Menschen Sorge, wenn die Glaubenswahrheit, an die sie alles hängen, scheinbar relativiert wird, weil neben ihnen Menschen mit der gleichen Überzeugungskraft an etwas anderes glauben. Da können wir nur sagen: Das ist so, aber es schadet uns nicht, etwas zusammen zu machen. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Pflege der eigenen Identität und der Offenheit für Andere. Im Übrigen hat jedes echte Gespräch einen offenen Ausgang. Man weiß ja nicht, wo es hinführt, wenn man anfängt, miteinander zu reden.

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