Freie Fahrt in Bus und Bahn: Wo geht die Reise hin?
Der Nahverkehr steht vor großen Herausforderungen. Warum also nicht groß denken? Ein ticketloser ÖPNV ist die Vision einer Welt, wie sie sein sollte.
Denn eigentlich wissen wir, dass er Teil der Lösung sein könnte: Gegenüber dem Autofahren wird im öffentlichen Personennahverkehr pro Person weniger als die Hälfte der Treibhausgase ausgestoßen. Und in der Stadt fast noch wichtiger: Ein elend großer Anteil des öffentlichen Raums wird von parkenden und fahrenden Autos belegt – es braucht eine Alternative dazu.
Wer nach der Pandemie den Nahverkehr stärken möchte, der weiß: Ohne viel Geld wird das nicht gehen. Vermutlich ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um zu überlegen, wohin die Reise gehen soll – und was der Nahverkehr in Zukunft für die Städte leisten kann. Und es ist der richtige Zeitpunkt, um eine Vision zu betrachten, die seit Jahren immer mal wieder hervorgebracht wird: die vom kostenfreien oder besser: ticketfreien ÖPNV.
Eine radikale Utopie
Dabei geht es um viel mehr als darum, den Nahverkehr attraktiver zu machen. Die Idee ist eine radikale Utopie, sie denkt vom Bedürfnis des Menschen her: Mobilität ist eine Voraussetzung für Teilhabe an der Gesellschaft. So, wie auch Gesundheit und Schulbildung erst einmal für jede*n erhältlich sein sollte, darf Mobilität nicht davon abhängen, ob Frau F. ein Auto besitzt, ob Herr S. noch Fahrrad fahren kann oder ob Frau H. gerade 2,80 Euro übrig hat.
Die Vision eines ticketfreien Nahverkehrs geht davon aus, dass die Gesellschaft alles tun muss, um wirklich allen das Bedürfnis nach Mobilität zu ermöglichen – und das auf eine Art, die Umwelt und Mitmenschen möglichst wenig belastet. Wenn alle einfach einsteigen können, wächst die Stadt zusammen, ärmere Menschen an den Stadträndern sind wieder angeschlossen. Und Schwarzfahrer*innen landen nicht mehr im Knast, weil es kein Schwarzfahren mehr geben muss.
Und dann ist da noch die Freiheit: Wer jemals ein Semesterticket hatte, erinnert sich vielleicht an das wunderbare Gefühl, sich in jeden Nahverkehrszug setzen zu können, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob eine Fahrt wirklich nötig ist. Bus- und Bahnfahren wird zur unkomplizierten Selbstverständlichkeit. Die Stadt ist meine – in jedem Winkel steht sie mir offen.
Zweifler*innen an dem Modell verweisen auf die Erfahrung aus Tallinn: Dort waren die Busse und Bahnen nach Einführung eines ticketlosen Modells nämlich – Überraschung! – plötzlich ziemlich voll, manche sagen überfüllt. Anders gesagt: Bei dem Ziel, Menschen zum Umsteigen zu gewinnen, hatte Tallinn einfach ziemlich großen Erfolg.
Das geht natürlich nicht – beliebter sind bei Entscheidungsträgern deshalb Varianten, gegen die niemand groß etwas haben kann: günstigere Sozialtickets etwa, neue Kurztarife oder, schon aufsehenerregender: das 365-Euro-Ticket, Fahren für einen Euro pro Tag.
Gemeinsam ist diesen Modellen: Die Gefahr eines massenhaften Umstiegs von Auto auf Bahn ist eher gering. Sie variieren nur leicht das bekannte System. Wer fahren will, muss zahlen, mal mehr, mal weniger. Wer Ausnahmen möchte, steht unter Rechtfertigungsdruck: Bist du auch arm genug für diese Leistung? Behindert genug?
Nicht nur gratis, sondern auch besser
In einem Punkt allerdings haben die Kritiker recht: Tickets abzuschaffen allein reicht nicht aus, vorher muss anderes passieren. Damit der Nahverkehr tatsächlich ein Verkehrsmittel für alle ist, muss er mehr können, als gratis zu sein. Das Ziel heißt nicht nur ticket-, sondern auch fahrplanloser Nahverkehr: Busse und Bahnen müssen so oft fahren, dass es sich immer lohnt, zur Haltestelle zu gehen. Sie müssen auch nachts fahren und sonntags.
Es reicht auch nicht, bestehende Verbindungen auszubauen: Ein Nahverkehr für alle muss auch in die Gewerbegebiete fahren, zu den großen Arbeitgebern, und in die Vororte, wo Menschen wohnen. Viele Fragen schließen sich an: Wie schaffen wir es, dass jede*r sich sicher fühlt im ÖPNV? Wie lang darf der Weg zur Haltestelle sein? Wie schaffe ich Barrierefreiheit – immer, überall, spontan? Wie sorge ich dafür, dass ein einzelner Nieser auch außerhalb von Pandemiezeiten, nicht einen ganzen Bus flachlegt?
Viele dieser Themen wurden und werden aufgenommen von der Nahverkehrskonferenz Öfficon, die seit Donnerstag und noch bis Sonntag in Bremen stattfindet. Organisiert wird die Konferenz von „Einfach Einsteigen“ – einem Bündnis, das in Bremen seit 2019 für einen ticketfreien Nahverkehr einsteht.
Die Idee findet Anklang
Sie sind weit gekommen: Aktuell setzt sich selbst die lange Zeit autofreundliche Bremer SPD ein für einen ticketlosen Nahverkehr ein. Wenn Kritiker auch murren, dass das vorgezogener Wahlkampf sei: Gut so, wenn die Partei das Gefühl bekommt, mit einer Vision von Gleichheit und Freiheit Wahlkampf machen zu können.
Vor dem Nahverkehr der Zukunft liegen noch einige schwere Brocken: Die Frage der Finanzierung ist lösbar – banal ist sie aber nicht. Personal ist in vielen Städten knapp. Auch Zeit ist ein Faktor: Es dauert Jahre, bis neue Busse geliefert werden können, neue Bahnen brauchen noch länger. Und Klagen von Anwohner*innen verzögern regelmäßig den Ausbau eines guten Nahverkehrsnetzes.
Die Utopie aber steht da. Sie ist das Ziel – und kann zur Orientierung dienen, wenn in den Mühen der Ebene gerade wieder nur das nächste Hindernis zu sehen ist.
Lesen Sie mehr über den st ädtischen Nahverkehr der Zukunft in unserer gedruckten taz am wochenende oder hier.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“