piwik no script img

Verbrechen gegen russische GefangeneWehrmacht im Justizvisier

Auf bis zu 2.000 ehemalige Soldaten könnten Ermittlungen zukommen. Sie waren unter anderem Wachmänner in Lagern für sowjetische Kriegsgefangene.

Viele starben an Unterernährung: Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene in Hessen Foto: Arne Dedert/dpa

Berlin taz | Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat ihre Ermittlungen erheblich ausgedehnt. Sie prüft nun auch Verantwortliche für den Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen und die Verbrechen der Einsatzgruppen. Konkret geht es dabei derzeit nach Angaben des Leiters der Zentralen Stelle, Thomas Will, um sieben frühere Soldaten wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord. Sie sollen Lager sowohl im Osten als auch auf Reichsgebiet bewacht haben.

Will sagte, er hoffe, „dass wir von den sieben bisher eingeleiteten Verfahren zumindest einige abgeben können“. Von den namentlich bekannten Wachmännern konnten die Ermittler nach einem Bericht der Welt am Sonntag etwa 2.000 Personen identifizieren, die aufgrund ihrer Geburtsjahrgänge heute möglicherweise noch am Leben sind.

Die Bedingungen in den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene waren darauf ausgelegt, dass ein Großteil der Inhaftierten dort nicht überleben konnte. Insgesamt starben dort bis zu 3,3 Millionen der etwa 5,7 Millionen Gefangenen. Die Ernährung war vollkommen unzureichend, eine medizinische Betreuung nicht vorhanden. Häufig mussten die Gefangenen unter freiem Himmel leben, und das bei teilweise eisiger Kälte. Die NS-Machthaber ließen ihre Gefangenen bewusst sterben.

Nach dem Krieg kam es nur in den seltensten Fällen zu Ermittlungen gegen die in den Kriegsgefangenenlagern eingesetzten Soldaten. In der Bundesrepublik wurde lange die Mär von einer „sauberen“ Wehrmacht gepflegt, die sich im Gegensatz zur SS an keinen Verbrechen beteiligt habe. Diese Auffassung gilt inzwischen unter Historikern als widerlegt.

Wende im letzten Jahrzehnt

Im Gegensatz dazu kam es schon früh zu Verurteilungen von Angehörigen der Einsatzgruppen, die, gebildet aus SS und Polizeieinheiten, die Aufgabe hatten, vor allem sowjetische Jüdinnen und Juden zu ermorden. Bis zu 1,5 Millionen Menschen fielen der reisenden Mördertruppe zum Opfer.

Der von den Alliierten durchgeführte Nürnberger Einsatzgruppenprozess von 1948 endete mit 14 Todesurteilen gegen SS-Führer. Zwei Jahre später verurteilte erstmals ein deutsches Gericht zwei Täter zu lebenslangen Haftstrafen. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess gegen zehn Täter im Jahr 1958 machte deutlich, dass die Aufarbeitung der NS-Verbrechen keineswegs, wie in der Öffentlichkeit vielfach propagiert, vor seinem Ende stünde, und führte zur Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.

Im letzten Jahrzehnt allerdings erfolgten dort vor allem Ermittlungen gegen in Vernichtungs- und Konzentrationslagern eingesetzte NS-Täter, da eine veränderte Rechtsprechung hier die Möglichkeit eröffnete, auch diejenigen als Teil einer Mordmaschine anzuklagen, denen kein individueller Mord nachgewiesen werden kann. Die jetzt erfolgte Erweiterung der Ermittlungen um die Stalags sei „konsequent weitergedacht“, sagte Will.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Bleibt die Frage, was die Justiz in den letzten 70 Jahren so getrieben haben.



    Die Strafverfolgung ist seit Zeiten von Kaiser Friedrich II. keine freiwillige Leistung, sondern gesetzliche Pflicht (Legalitätsprinzip). Nach einen Dreivierteljahrtausend sollte sich das bin in die Büros unserer Staatsanwälte herumgesprochen haben.

    Also, wann werden die Staatsanwälte und Richter bestraft, die jahrzehntelang die Bestrafung der NS-Verbrecher vereitelt haben?

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Hat man gewartet bis die verantwortlichen Täter tot sind, um jetzt den damals kleinen Lichtern den Prozess zu machen?



    Kann man machen, dann aber bitte auch die Quandt Sippr, die Piechs enteignen. Und nicht noch den Hohenzollern irgendetwas zurückgeben.

  • W. Brandt hat sich in historisch einmaliger Demutsgeste vor dem Warschauer Denkmal des Ghettoaufstandes für die in deutschem Namen verübte Shoa entschuldigt. H. Kohl und F. Mitterand reichten sich in konzilianter Geste über den Gräbern von Verdun die Hände, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ endgültig beendend. G. Schröder hat als erster deutscher Bundeskanzler mit seiner Teilnahme an den Gedenkfeiern in der Normandie 2004 eindeutig Farbe bekannt. Sogar kleineren Opfergruppen wie den Schwulen und den Sinti und Roma werden eigene Denkmäler gewidmet.

    Wann wird deutscherseits endlich der größten aller Opfergruppen und dem mit Abstand wichtigsten Kriegsfeind Hakenkreuz-Deutschlands eine ebenbürtige Ehrung und Geste der Versöhnung zuteil, den zivilen Opfern der Operation „Barbarossa“?

    Die verhungerten sowjetischen Kriegsgefangenen gehören dazu. Es gibt keinen plausiblen Grund, die sechs Mio. Opfer der Shoa einerseits und die über drei Mio. in deutschen KZ getöteten sowjetischen Kriegsgefangenen andererseits nach moralisch-zivilisatorischen Maßstäben unterschiedlich zu bewerten. Die gemeinsame doktrinale Referenz für beide systematisch und mit preußischer Gründlichkeit in deutschem Namen verübten Völkermorde war bekanntlich die Theorie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, das ideologische Essential der Hakenkreuzler.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Danke für die Klarstellung, die ich voll teile. Ergänzen möchte durch den Hinweis auf die über eine Millionen ermordeten BürgerInnen der damaligen Stadt Leningrad, die man im wahrsten Sinne des Wortes durch Hunger krepieren ließ.

  • Seitdem die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg mit dem Urteil gegen John Demjanjuk die »Beihilfe zum Mord« neu für sich definiert hat, sind so ziemlich SÄMTLICHE Mitglieder der Reserve-Polizeibataillone / Einsatzgruppen strafrechtlich zu verfolgen.

    »Für uns reicht [jetzt z.B.] die Tätigkeit eines Aufsehers in diesem Lager für die Annahme von Beihilfe zum Mord aus, ohne dass der betreffenden Person eine unmittelbare Beteiligung an einem konkreten Tötungsdelikt nachgewiesen werden muss.« Dies erklärte Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle so in einem Interview.

    Hier hat unter Adenauer mit Globke die deutsche Nachkriegsjustiz - mit Ausnahme der Aktivitäten von Dr. Fritz Bauer und einiger weniger Afrechter - hoffnungslos, weil interessengesteuert, versagt.

    In einem Gespräch mit dem damaligen NDR-Redakteur und späteren FAZ-Herausgeber Joachim Fest über Adolf Eichmanns Prozess zitierte Hannah Arendt, passend dazu, den politischen Philosophen und frühen Aufklärer Hugo Grotius:

    "Zur Ehre und Würde des Geschädigten gehört, dass der Täter bestraft wird."

     

  • RS
    Ria Sauter

    Sind ja wirklich zeitnahe Ermittlungen.

  • Als Einstieg - mal dies:

    Wehrmachtsausstellung:



    de.wikipedia.org/w...rmachtsausstellung



    & Stalags



    de.wikipedia.org/wiki/Stammlager



    Beginn: “ Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlager



    Im Anschluss an den Angriff auf Polen im September 1939 errichteten die Nationalsozialisten Zwangsarbeitslager, in denen Tausende von Gefangenen an Erschöpfung, Hunger und Unterkühlung starben. Die Lager wurden von SS-Einheiten bewacht. Während des Zweiten Weltkriegs hat sich das Lagersystem rasant verbreitet. In einigen Lagern führten NS-Ärzte medizinische Experimente an Gefangenen durch.

    Nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion im Juni 1941 stockten die Nationalsozialisten die Zahl der Kriegsgefangenenlager auf. Einige neue Lager wurden an bestehenden Lagerkomplexen im besetzten Polen errichtet (z. B. Auschwitz). Das Lager in Lublin, später bekannt als Majdanek, wurde im Herbst 1941 ursprünglich als Kriegsgefangenenlager errichtet und 1943 in ein Konzentrationslager umgewandelt. Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen wurden in dem Lager erschossen oder vergast.…“



    encyclopedia.ushmm...article/nazi-camps

    • @Lowandorder:

      Ich finde es wichtig, dass die Erinnerung an den Holocaust nicht die Erinnerung an die millionenfachen anderen Verbrechen Nazideutschlands überlagert. Z.B. die grausame Ermordung von über einer Millionen Zivilisten im damaligen Leningrad, die einen grausamen Hungertod sterben mussten.



      www.mdr.de/zeitrei...-blockade-100.html

      Nur wenn wir keinen Geschichtsrevisionismus betreiben und die Barbarei des deutschen Faschismus als Ganzes betrachten, können wir unserer Verantwortung gegenüber ALLEN Menschen gerecht werden.



      Ich denke da mit Sorge an die teils rassistischen Urteile über Russland. Dass ausgerechnet die russischen Menschen uns Deutschen gegenüber sehr aufgeschlossen sind, beschämt mich angesichts der Russlandhetze.

      • 8G
        83379 (Profil gelöscht)
        @Rolf B.:

        Was ist mit den Ukrainern? Die haben verhältnismäßig mehr gelitten als die Russland aber die Hetze und die Herblassung mit der das ukrainische Streben mehr zu sein als Vasall Russlands wird von deutschen Linken wie Rechten zusammen mit einer Herablassung behandelt, das jedem Gerede von historischer Verantwortung Hohn spottet.

        Russlandhetze habe ich übrigens in deutschen Diskursen nicht gesehen, nur heftige Kritik am russischen Imperialismus und Militarismus.

        Im Bezug auf die Kriegsverbrechen die Lowandorder erwähnt sei Alfred Rosenberg genannt der in Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit erhält, obwohl er ein maßgeblicher Ideologie für den anti-slawischen Rassismus war. Dieser behauptete Bspw. das Slawen die Kälte nichts ausmachen würde und das dementsprechend Deutsche Soldaten sich nicht schlecht fühlen sollten wenn sie den Russen die Kleidung wegnehmen, diese erfroren dann.

        • @83379 (Profil gelöscht):

          Sie verkürzen die Ukraine auf eine Opferrolle. Ja, es hat viele Opfer des deutschen Faschismus gegeben. Und leider auch viele Helfer aus der Ukraine.



          Ich denke an ukrainische SS Divisionen, die bei Massakern an damalige Büger der UdSSR und Judendeportationen beteiligt waren. Auch heute noch gibt es in der Ukraine starke faschistische Kräfte. Aber dazu wäre mehr zu sagen, was hier in Kürze nicht leistbar wäre.

          • @Rolf B.:

            Helfer hatte der deutsche Faschismus nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland. Vielleicht haben Sie ja schon einmal etwas von der Wlassow-Armee gehört.



            Es ist leider so: noch kein Diktator hatte je sonderliche Mühe ausreichend Helfer zu finden, die sein Werk, so abscheulich es auch sein mag, helfen in die Tat umzusetzen.

  • "Erweiterung der Ermittlungen um die Stalags sei „konsequent weitergedacht“, sagte Will."

    Konsequent weitergedacht, werden in ca 10 Jahren alle ex NSDAP Mitglieder wegen Unterstützung eines Terrorregimes verfolgt. Leider wird es keine mehr geben.