Identitätspolitik und Kritik: Propagandistische Totalverblödung
Der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann legt sich mit der Cancel Culture an und stolpert in seinem neuen Buch über die eigenen Thesen.
Eine Erregungswelle sorgt für Ärger im Feuilleton: die Cancel Culture der Identitätspolitik. Glaubt man ihren Kritikern, handelt es sich um eine ominöse Macht, die unliebsame Meinungen und Akteure rücksichtslos aus Diskurs, Öffentlichkeit und Karrieren entfernt. Und in der Tat können identitätspolitisch inspirierte Aufgeregtheiten in Rekordgeschwindigkeit sehr prinzipiell eskalieren.
Wie das geht, erlebte vor Kurzem der SPD-Veteran Wolfgang Thierse. Nachdem er die Selbstverständlichkeit geäußert hatte, gerade pluralistische Gesellschaften, in denen minoritäre Gruppen völlig zu Recht Respekt und Anerkennung verlangen, seien auf Common Sense und für alle gültige Regeln angewiesen, ging ein veritabler Shitstorm auf ihn nieder.
Bernd Stegemann: „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2021, 304 Seiten, 22 Euro
Typisch ist, dass in solchen Auseinandersetzungen nicht Argumente ausgetauscht oder Handlungen kritisiert, sondern mit Unterstellungen operiert und Gegner umstandslos als Personen unter moralischen Generalverdacht gestellt werden.
Im Fall Thierse übernahm das die SPD-Vorsitzende Esken mit einem identitätspolitischen Anbiederungsversuch und der Bemerkung, sie „schäme“ sich für die Äußerungen ihres Parteifreundes: Thierse vertritt nicht nur Ansichten, die Frau Esken nicht teilt, er wird mit Scham und Verachtung versehen.
Die Moralkommunikation
Der Theaterdramaturg Bernd Stegemann, einer der linken Kritiker der identitätspolitischen Cancel Culture, hat für diese Mechanismen die Vokabel der „propagandistischen Totalverblödung“. Zu dieser Form der Moralkommunikation kann gehören, dass die eigene Zugehörigkeit zu einer identitätspolitisch diskriminierten Gruppe und die damit verbundene Verwundbarkeit als Beweis der moralischen Überlegenheit dient, die jedes Argument ersetzt: Ich gut, du böse. Die französische Feministin Caroline Fourest bringt den Mechanismus in einem wütenden Essay auf die Formel „Generation beleidigt“.
Das Opferspiel beherrscht allerdings auch die Gegenseite, für die in schwachen Momenten offenbar schon die Frage, ob rassistischer und sexistischer Sprachgebrauch unbedingt nötig ist, das Ende der Meinungsfreiheit markiert. Dabei werden Kräche aus den ungleich härteren US-amerikanischen Kulturkämpfen oder auch deutsche Kulturbetriebsunfälle mit einer gewissen Begeisterung rapportiert: Lauter Beweise für die Übermacht einer Mafia der Politischen Korrektheit.
Giovanni di Lorenzo etwa berichtet in der Zeit, die Redakteure der New York Times litten laut der Konkurrenz von der New York Post so unter der Cancel Culture, dass sie Angst hätten, zu schreiben, was sie denken. Er vergisst zu erwähnen, dass die New York Post zu Rupert Murdochs rechtem Boulevard-Imperium gehört und politisch etwa so ausgewogen berichtet wie sein Sender Fox News. Auch Simon Strauß, der Theaterkritiker der FAZ, beklagt, dem Kulturbetrieb fehle es an „Vielfalt der Überzeugungen“.
Als Beleg der steilen These verweist Strauß auf den Regisseur Alvis Hermanis, der vor einigen Jahren erlebt haben soll, „dass sich in Deutschland die Bühnenhäuser von ihm abwandten, nachdem er sich kritisch zur westeuropäischen Migrationspolitik geäußert hatte“. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Weil Hermanis nicht damit einverstanden war, dass sich das Hamburger Thalia Theater mit Geflüchteten solidarisierte, sagte er eine geplante Inszenierung an diesem Haus ab. Wer hat hier wen gecancelt?
Feindbilder konstruieren
Die Fehlleistung des FAZ-Redakteurs ist typisch für die Manöver der Feindbildkonstruktion. Das Muster ist verbreitet, vom Bestsellerautor Uwe Tellkamp, der von einem verengten Meinungskorridor fantasiert, bis zu Dieter Nuhr, der zur besten Sendezeit beklagt, dass er kein „Zigeunerschnitzel“ mehr bestellen könne – ohne Frage ein schrecklicher Fall von Meinungsdiktatur und Speisekartenkorridorverengung.
Höchste Zeit, dass jemand etwas Klarheit in die verworrene Debatte bringt. Der konfliktfreudige Theatermann Bernd Stegemann, Dramaturg am Berliner Ensemble und Professor an der Hochschule Ernst Busch, versucht das mit seinem neuen Buch – auch wenn das Ergebnis vielleicht eher ein Symptom der gereizten Stimmungen ist und nicht, wie der Autor beansprucht, ein Beitrag zu ihrer Aufklärung. Wie immer bei Stegemanns ausgedehnten Theorie-Streifzügen kann man eine Menge lernen.
Zum Beispiel, weshalb die weit verbreiteten Manöver, Identität je nach Bedarf mal als soziale Konstruktion, mal essentialistisch zu definieren, zu heilloser Konfusion mit Erpressungspotenzial führen. In der kühlen Analyse verquerer Argumentationsweisen einer aufgeheizten Identitätspolitik ist Stegemann glasklar. Auch ältere Scharmützel, etwa zwischen den normativen Setzungen Habermas’ und Luhmanns Funktionalismus, macht er gekonnt für die Diagnose heutiger Konfliktlagen fruchtbar.
Unter dem unbescheiden auf Popper und Habermas verweisenden Buchtitel „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ versucht Stegeman nicht weniger als eine Beschreibung des jüngsten Strukturwandels der Öffentlichkeit, samt der Gefährdung ihrer Funktionsfähigkeit.
Selbstbezügliche Identitätspolitiken
Für diese von ihm diagnostizierte „Dysfunktionaliät“ macht er in erstaunlicher Einseitigkeit vor allem die Selbstbezüglichkeit von Identitätspolitiken verantwortlich. Damit setzt er seine aus früheren Veröffentlichungen vertrauten Misstrauensbekundungen fort, die er schon als Wegbegleiter von Sahra Wagenknechts gescheiterter „Aufstehen“-Initiative mit Talent zur Polemik und den für „Aufstehen“ typischen Vergröberungen deutlich gemacht hat.
In der Rede von Race und Gender vermutet Stegemann vor allem die Funktion, Klassengegensätze zuzudecken und die eigene Gruppenzugehörigkeit zu feiern.
Das ignoriert unter anderem, dass sich sexistische und rassistische Diskriminierung in ökonomischer Benachteiligung fortsetzt. Bei kulturlinken Identitätspolitiken handelt es sich in seinen Augen offenbar um nicht viel mehr als um egoistische Distinktionsspiele ökonomisch Privilegierter.
Auch wenn Stegemann immer wieder erfrischend angriffslustige Debattenbeiträge gelingen, wenn er an Nancy Frasers Kritik am „progressiven Neoliberalismus“ anknüpft oder die Lebenslügen eines selbstgerechten, für die eigenen ökonomischen Privilegien blinden Justemilieus auseinandernimmt, kommt einem das Argumentationsmuster oft unangenehm bekannt vor.
Nur ein Ablenkungsmanöver?
Es erinnert fatal an K-Gruppen-Dogmatiker der 1970er Jahre, die in den neuen sozialen Bewegungen nur Ablenkungsmanöver vom Klassenkampf erkennen konnten und der Frauenbewegung vorwarfen, sie verrenne sich in einen „Nebenwiderspruch“.
„Die Öffentlichkeit“ tritt hier als kompakter Block im Singular auf, als gebe es nur die eine – und nicht unzählige, die sich überlagern oder autistisch gegeneinander abdichten. Auch das führt zu groben Vereinfachungen („Mit dem Auftreten des Coronavirus gab es für die Öffentlichkeit keinen Klimawandel mehr“). Stegemans Begriff von Öffentlichkeit ist emphatisch: der Ort, an dem sich eine Gesellschaft über ihre Konflikte verständigt und politische Entscheidungen kritisiert oder mit Legitimation versieht.
Dieser Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung, so Stegemanns Diagnose, gerät unter Stress, wenn sich eine Gesellschaft „vordringlich mit der Frage beschäftigt, welchen Umgang mit verschiedenen identitären Gruppierungen“ sie für angemessen hält.
Man muss sich wahrscheinlich hauptberuflich in den etwas abgehobenen, ausgiebig mit sich selbst beschäftigten Segmenten des Kulturbetriebs bewegen, um das für das „vordringliche“ Thema der politischen Debatte zu halten. In den „identitätspolitischen Empörungswellen des 21. Jahrhunderts“ sieht der Cancel-Culture-Kritiker nicht weniger als die Gefahr einer „Selbstzerstörung der Öffentlichkeit“. Soll das bedeuten, dass etwa Black Lives Matter ein Totengräber der offenen Debatte ist?
Blind für die Ursachen
In seiner Kritik ist Stegemann blind für die Ursachen der „identitätspolitischen Empörungswellen des 21.Jahrhunderts“, also die Missstände, auf die sie reagieren. Dieser Blindheit korrespondiert der Versuch, Rechtspopulisten und Rassisten als gedemütigte Opfer des Neoliberalismus zu zeichnen.
Deren Wut findet Stegemann verständlich, auch wenn sie sie bedauerlicherweise als „Übersprungshandlung“ am falschen Objekt abreagierten. Im nächsten Schritt werden in Stegemanns befremdlicher Perspektive Antirassisten zu Verteidigern des Neoliberalismus.
Die in vielen Variationen durchgespielte These, „die Folgen von Identitätspolitik und Populismus bestehen vor allem darin, die Gesellschaft in unversöhnliche Communities zu spalten“, wirkt höchstens auf den ersten Blick einleuchtend.
Die im Lauf des Textes häufig verwendete Parallelisierung von Populismus und Identitätspolitik (genauer: die Unterstellung ihrer funktionalen Äquivalenz) wischt die Kleinigkeit beiseite, dass es linker Identitätspolitik um die Beseitigung von Diskriminierung benachteiligter Gruppen geht – und dem rechten Populismus geht es exakt um das Gegenteil.
Gesellschaftliche Spaltung
Er zielt auf die Festschreibung der Diskriminierung und die gereizte Verteidigung tradierter Privilegien. Die Behauptung, die identitätspolitischen Bewegungen der Frauen, der Queeren oder von Black Lives Matter bewirkten „vor allem“ die gesellschaftliche Spaltung, ist abenteuerlich.
In Wirklichkeit machen sie die realen Spaltungen sichtbar, markieren sie als Problem und tragen zu ihrer Überwindung bei: Ohne Rosa von Praunheim kein offen schwuler CDU-Gesundheitsminister. Nicht Black Lives Matter spaltet die US-Gesellschaft, sondern der Rassismus. Die „Folge von Identitätspolitik“ besteht im Fall der Frauenbewegung nicht in „unversöhnlichen Communities“, sondern in weniger Geschlechterungerechtigkeit. Wer das nur als gesellschaftliche Spaltung wahrnimmt, wünscht sich die auf Unterdrückung basierende falsche Harmonie zurück.
Über solche Zuspitzungen und erstaunlichen Ungenauigkeiten stolpert man in diesem Buch häufig. So nennt Stegemann als Beispiel der von ihm diagnostizierten Thematisierungs-Blockaden die fehlende Debatte über eine „Überdehnung der Asylgesetze, die für Arbeitsmigration missbraucht werden“. Abgesehen davon, dass man sich bei solchen Sätzen kurz fühlt wie bei einer AfD-Kundgebung und dass die Behauptung Unsinn ist (schon weil Geflüchtete lange auf eine Arbeitserlaubnis warten müssen), ist sie auch als Beleg angeblicher Sprechverbote unbrauchbar. Es fehlt der öffentlichen Debatte nicht an Stimmen, die verkünden, viele Geflüchtete hätten keine echten Fluchtgründe und wollten nur am deutschen Wohlstand teilhaben. Sind sie Stegemann etwa noch nicht laut genug?
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