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Gewalt gegen Frauen in Osnabrück„Viel Arbeit vor uns“

Führt der Lockdown zu einer Zunahme von Gewalt gegen Frauen? In Osnabrück drängt eine Ratsinitiative auf bessere Prävention und Intervention.

Ein gewaltfreies Leben ist für viele Frauen keine Selbstverständlichkeit: Aktivistin 2020 in Berlin Foto: dpa / Christophe Gateau

Osnabrück taz | Augenblicke wie dieser sind selten in Kommunalparlamenten: Wenn am 9. März, einen Tag nach dem Internationalen Frauentag, im Rat der Stadt Osnabrück Tagesordnungspunkt 4. 7. aufgerufen wird – „Gewalt gegen Frauen verhindern. Istanbul-Konvention in Osnabrück umsetzen“ – werden sich alle einig sein. Eine Lehrstunde gegen die Politikverdrossenheit.

Die Architektin dieser seltenen Einigkeit ist Diana Häs, die frauen- und gleichstellungspolitische Sprecherin der Ratsfraktion der Grünen. Wenige Stunden nur, dann waren sie alle mit im Boot, für einen interfraktionellen Antrag: CDU und FDP, die Linke und die SPD, die Piraten, die Wählergruppe UWG/UFO/bus. „Das setzt ein starkes Zeichen der Gemeinsamkeit“, sagt Häs. „Da geht es nicht um Parteipolitik.“

Ihr Vorstoß, zu prüfen, „welche zusätzlichen Maßnahmen der Prävention und Intervention zur besseren Vermeidung von Gewalt gegen Frauen beschlossen werden können“, hat einen alarmierenden Hintergrund: 2020 haben 507 Frauen in der Osnabrücker Frauenberatungsstelle angerufen, um in einer Krise Hilfe zu finden; 2019 waren es nur 82. Häs ist sicher: „Corona hat die Lage drastisch verschärft.“

„Jetzt müssen der Absichtsbekundung Maßnahmen folgen“, sagt Maria Meyer, Traumaberaterin und Psychosoziale Prozessbegleiterin bei der Frauenberatungsstelle. An 86 Hochrisikofällen hat die Beratungsstelle 2020 mitgearbeitet. „86 von Tötung bedrohte Frauen! Und das ist nur das Hellfeld“, sagt Meyer. Dass die Zahl der Telefonkontakte so stark gestiegen ist, sei eine Folge des Lockdowns, sagt sie. „Einfach aus dem Haus gehen und persönlich zu uns kommen, ist ja jetzt schwer. Die Kids sind zu Hause, der Mann vielleicht auch …“

Mehr Opferberatung benötigt

Meyer hat klare Wünsche an die Politik. Einer davon: Kapazitätsausbau. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention beinhalte das Recht auf Opferberatung. „Dieses Recht kann nur umgesetzt werden, wenn die Einrichtungen zur Frauenunterstützung vor Ort ausreichend räumlich und personell ausgestattet werden.“ Man brauche mehr Präventionsprojekte zu sexueller Belästigung im öffentlichen Raum, die Fortbildung von MultiplikatorInnen zum Thema Gewalt gegen Frauen. Dass die Frauenberatungsstelle Frauen abweisen muss, an andere Stellen vermitteln, ist keine Seltenheit.

Das Autonome Frauenhaus Osnabrück, das jährlich rund 100 Frauen und Kinder aufnimmt, gleichzeitig aber 250 ablehnen muss, sieht „dringenden Bedarf in der Eröffnung eines autonomen Frauenhauses im Südkreis des Osnabrücker Landes“, so Marion Kuhlmann, „da hier die laut Istanbul-Konvention vorzuhaltenden Plätze nicht ausreichen“. Die Osnabrücker Politik müsse zudem verstehen, „dass ein Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz kontraproduktiv ist, da die Frauen die erlebte Gewalt beweisen müssten, um den Anspruch zu begründen“.

An der örtlichen Kriminalstatistik lässt sich die Größe des Problems nur bedingt ablesen. Stadt und Landkreis Osnabrück zusammengenommen, steigen die Zahlen der „häuslichen Gewalt“ zwar seit Jahren, von 915 in 2015 bis 1.244 in 2019 – in rund 80 Prozent der Fälle sind die Opfer Frauen. „Das heißt nicht unbedingt, dass auch die Zahl der Taten steigt“, sagt Maike Ahlrichs, Opferschutzbeauftragte der Polizeiinspektion Osnabrück und Leiterin des „Osnabrücker Fallmanagements bei Hochrisikofällen häuslicher Gewalt“. „Aber in den letzten Jahren hat die Sensibilisierung stark zugenommen.“

Die Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor. Aber es könnte sein, dass der Lockdown sie nicht signifikant erhöht. Nicht, weil nichts passiert. „Aber womöglich greift in Zeiten der gesamtgesellschaftlichen Krise das alte Familienmodell wieder stärker“, sagt Ahlrichs. „Die Leidensfähigkeit der Frauen steigt. Man holt sich keine Hilfe, obwohl man sie braucht.“

Die Konferenzen ihres „Fallmanagements“ sind etwas Besonderes in Osnabrücks Hilfs-Infrastruktur. Institutionen vom Jugendamt über den Weißen Ring bis zur Staatsanwaltschaft konzentrieren sich hier. Das führt, sagt Ahlrichs, zu „kurzen Wegen, weil jeder jeden kennt“.

Der 9. März ist ein Tag, der „sichtbar macht“, sagt Diana Häs. „Aber die eigentliche Arbeit folgt erst danach.“

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