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Strukturwandel in WeißenfelsDas Pirmasens des Ostens

Weißenfels war zu DDR-Zeiten eine Hochburg der Schuhproduktion. Heute leidet es wie so viele mittlere Städte unter dem Strukturwandel.

Festes Schuhwerk ist immer noch wichtig in der Fußgängerzone von Weißenfels Foto: Seyboldtpress

Berlin taz | Ein Erbe kann sehr mächtig sein. In Weißenfels sah das Erbe so aus: Brachen, Ruinen, Trostlosigkeit. Es war das Erbe, das die DDR der jahrhundertealten Stadt in Sachsen-Anhalt hinterlassen hat. Dieses Erbe hatte zur Folge, dass nach dem Mauerfall viele Menschen die Stadt an der Saale gegen Sehnsuchtsorte vor allem im Westen eintauschten. In nur sechs Jahren verlor Weißenfels ein Viertel seiner Einwohner:innen.

Und es verlor sein Alleinstellungsmerkmal: die Schuhproduktion. Zu Hochzeiten beschäftigte der Volkseigene Betrieb, der VEB Banner des Friedens, rund 5.000 Männer und Frauen. Am Fließband und im Schichtbetrieb, inklusive Nachtarbeit, produzierten sie Sandaletten, Stiefel, Herrenschuhe für die Republik. Vom Weißenfelser Hauptstandort aus koordinierte die Betriebsleitung zusätzlich etwa 35 Niederlassungen. 1992 machte der Betrieb allerdings dicht. Heute wirbt die Panther Schuh Manufaktur in Weißenfels als „das gallische Dorf im globalen Schuhmarkt“ für orthopädische und Barfußschuhe sowie Sonderanfertigungen.

Das macht Weißenfels, wenn man so will, zum Pirmasens des Ostens. Auch die einstige Schuhmetropole in Rheinland-Pfalz verlor ihren Standortvorteil durch die Produktion des podologischen Kulturgutes. Von den rund 300 Schuhfirmen in den 1960er Jahren überlebten bis heute etwa 30.

Aber Pirmasens und Weißenfels schüttelten ihr Erbe ab und erfanden sich neu: als Tourismusorte. Pirmasens ist der beste Ort zum Ballonfahren und Wandern mit Eseln, in Weißenfels feiert man zu normalen Zeiten das Heinrich Schütz Musikfest, eines der wichtigsten Klassik­events in der Republik. Der wohl berühmteste Komponist des Frühbarocks hat in Weißenfels seine Kindheit verbracht; das Schütz-Haus, in dem der Musiker bis zu seinem Tod lebte, ist heute ein Museum.

Mit viel Glück

Ballonfahren und Musikfest sind pandemiebedingt derzeit ausgesetzt. Aber in Weißenfels gibt es noch das Schloss, das Novalis-Haus, die Marienkirche. Alles von außen und jederzeit zu besichtigen.

Mit viel Glück bleibt der Be­su­ch verschont von den Gerüchen des Schlachthofs am Stadtrand. Nach der Wende siedelte sich in Weißenfels der Fleischproduzent Tönnies an.

Anfangs wurden dort täglich ein paar Hundert Schweine geschlachtet. Doch Tönnies, der wegen schlechter Arbeitsbedingungen und wegen hoher Corona-Infektionszahlen gerade viel schlechte Presse hat, baute seine Kapazitäten aus: zunächst auf 8.000 geschlachtete Schweine täglich, bald waren es 20.000. Die Schnitzel werden sicher auch in Pirmasens gegessen.

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