Ein Jahr nach Hanau: Der Kampf für Ferhat
Vor einem Jahr starb Ferhat Unvar mit acht anderen Menschen bei einem rassistischen Attentat. Seine Mutter kämpft um Aufklärung.
E s sind nur ein paar Dutzend Meter, die Serpil Temiz gehen müsste. Von ihrer Wohnung über die Straße, an der Kita und Grundschule vorbei, dann wäre sie schon auf dem Kurt-Schumacher-Platz, zwei Minuten zu Fuß. Dort, wo Lebensmittelgeschäfte sind, ein Imbiss, ein Friseur. Und die Arena-Bar, mit dem angeschlossenen Kiosk.
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Aber Serpil Temiz ist diesen Weg seit einem Jahr kaum mehr gegangen, seit dem 19. Februar 2020. Sie kann es nicht. Denn in dem Kiosk wurde damals Ferhat Unvar erschossen, ein 23-jähriger Heizungsinstallateur. Ihr Sohn.
„Ich gehe nicht dorthin, nur wenn ich wirklich muss“, sagt Serpil Temiz. „Ich kann es nicht aushalten.“
Und es gibt noch einen anderen Weg, den Serpil Temiz nicht mehr geht. Er wäre noch kürzer. Er würde, nur eine Straße weiter, in den Norden des Stadtteils Kesselstadt führen, zu einer kleinen Wohnung in einem schlichten Reihenhaus, wo die Rollläden nun oft heruntergelassen sind.
Der Schmerz bleibt
Hier wohnte der Mann, der aus rassistischen Motiven Ferhat Unvar und acht weitere Menschen erschoss. Der danach auch seine Mutter ermordete und sich selbst: Tobias R., ein 43-jähriger Arbeitsloser, der einem Verfolgungswahn anhing und rassistisch war. Und hier wohnt weiter dessen Vater, ein 73-jähriger Rentner, der offenbar ganz ähnlich denkt. Sie meide auch diese Straße, sagt Temiz. Sie wolle das Haus nicht sehen und auch nicht den Vater.
Serpil Temiz’ zweitältester Sohn, Mirkan, wollte, dass sie wegziehen nach der Tat, raus aus Kesselstadt, dem West-Stadtteil Hanaus. „Aber ich kann nicht weg“, sagt Temiz. „Ferhat ist in Kesselstadt geboren, er ist in Kesselstadt gestorben, ich kann Ferhat nicht verlassen. Ich kann vor meinem Schmerz nicht wegrennen.“
Und dieser Tage ist der Schmerz wieder voll da. Weil sich der Tod von Ferhat Unvar und den anderen acht zum ersten Mal jährt. Weil nun alle Erinnerungen wieder aufreißen.
Es war 21.55 Uhr am 19. Februar 2020, als Tobias R. nahe dem Hanauer Heumarkt die Bar La Votre mit einer Česká-Pistole betrat, dort um sich schoss und den Barkeeper Kaloyan Velkov tötete, danach den Passanten Fatih Saraçoğlu und in der benachbarten Shisha-Bar Midnight den Besitzer Sedat Gürbüz. Dann stieg R. wieder in seinen schwarzen BMW und fuhr nach Kesselstadt, gefolgt von Vili Viorel Păun. Der 22-Jährige hatte zuvor versucht, R. mit seinem Mercedes zu blockieren, wurde beschossen – und fuhr dennoch hinterher. Am Kurt-Schumacher-Platz stieg Tobias R. aus, ging direkt auf den Wagen von Păun zu und erschoss den Jungen, dann ermordete er im Arena-Kiosk den Verkäufer Gökhan Gültekin und die Kundin Mercedes Kierpacz – und Ferhat Unvar. Und schließlich in der benachbarten Bar noch Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Nur gut fünf Minuten dauerte all dies, dann waren neun Menschen tot. Und Tobias R. fuhr wieder nach Hause.
Neun Menschen, ermordet aus Wahn und rassistischem Hass. Die Stadt wird am Freitag eine Gedenkfeier zum Jahrestag abhalten, pandemiebedingt nur mit 50 Gästen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird kommen, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Und auch Serpil Temiz wird da sein.
Auch dies wird ein schwerer Weg. Denn die 45-Jährige begleiten in diesen Tagen nicht nur Trauer und Schmerz, sondern auch Fragen, die sie nicht loslassen. Die größte: Wäre das Attentat zu verhindern gewesen? Könnte Ferhat noch leben?
Ferhat, der älteste Sohn von Serpil Temiz. Ein smarter, lebendiger Junge, der viel las, Gedichte schrieb, an Sachen rumschraubte, immer scherzte. Der sich um seine drei jüngeren Geschwister kümmerte. Wie ein Vater sei er für diese gewesen, sagt Temiz. Und Ferhat sei ein Junge gewesen, der alles hinterfragte, auch in der Schule. Er sei dort angeeckt und nicht gleich behandelt worden, sagt Temiz. Sei „der Ausländer“ gewesen, der es nicht packe. Aber Ferhat packte seinen Abschluss und hatte eine Lehre als Heizungsinstallateur abgeschlossen. Er wollte arbeiten, nebenbei noch studieren. Zwei Wochen später wurde er erschossen.
„Der Schmerz geht nie weg“, sagt Serpil Temiz. „Er wird nicht weniger. Ich habe 23 Jahre mit meinem Sohn verbracht. Wie soll ich ihn da vergessen?“ Bis heute verfolgen sie die Bilder im Kopf, wie sie in der Nacht des 19. Februar in Hanau nach Ferhat suchte, vor der Arena-Bar, in Krankenhäusern, ohne Erfolg. Bis am Morgen ein Beamter die Namen der Toten verlas. „Jeden Abend denke ich an diese Nacht.“
Ferhats Zimmer hat die Mutter bis heute unberührt gelassen. Jeden Tag fährt sie zu seinem Grab auf dem Hanauer Hauptfriedhof, erzählt ihm, was sie erlebt. Ferhat habe sich immer gegen Diskriminierungen gewehrt, habe nie aufgegeben. Also werde auch sie es nicht tun, sagt Temiz. Sie redet nun immer schneller. „Ich mache weiter, ich mache seinen Kampf weiter, bis zur letzten Sekunde meines Lebens werde ich etwas gegen Rassismus tun, verstehen Sie?“ Dann weint sie.
Serpil Temiz ist mit ihrem Schmerz nicht allein. Auch die anderen Angehörigen und Verletzten sind bis heute traumatisiert, machen Therapien, etliche können nicht arbeiten. Auch Temiz, die früher frei für eine kurdische Zeitung schrieb, schafft dies nicht mehr. Die Alleinerziehende muss sich jetzt um ihre drei Kinder kümmern, die noch bei ihr wohnen. Und um sich.
Inzwischen aber haben sich die Betroffenen zusammengetan. In einem früheren Geschäftsraum treffen sich viele von ihnen, gleich um die Ecke vom La Votre, dem ersten Tatort. Die „Initiative 19. Februar“, eine Gruppe Unterstützer:innen, hat hier einen Begegnungsraum eingerichtet. An einem Mittwochabend Ende Januar sitzt dort Serpil Temiz in schwarzer Jacke mit anderen um einen Laptop, sie besprechen ihre neue Bildungsinitiative, zwischendrin geht Temiz raus zum Rauchen.
In einer anderen Ecke plaudern Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan Gültekin, und Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz. Vorne steht die Familie Kurtović zusammen. Es wird auch gescherzt, ein Samowar rauscht, Kerzen stehen auf den Tischen, die Atmosphäre ist entspannt. Wären da nicht die Fotos und Zeichnungen der neun Getöteten an den Wänden.
Serpil Temiz kommt oft hierher. „Nur die anderen Familien verstehen den Schmerz.“ Dieser Tage gibt es in dem Treff aber vor allem ein Thema: Lief die Polizeiarbeit wirklich so gut wie behauptet? Warum besaß der Attentäter, trotz seiner psychischen Probleme, einen Waffenschein? Warum wurde er in der Tatnacht nicht gestoppt? Wie gefährlich ist sein Vater? Und: Wo bleibt die von der Politik versprochene Zäsur nach Hanau, wo der entschlossene Kampf gegen Rassismus?
Bis vor Kurzem galt der Attentäter als unauffälliger Einzelgänger. Aber er fiel schon im Januar 2002 erstmals auf. Damals studierte Tobias R. in Bayern BWL und meldete der Polizei das erste Mal, er werde von einem Geheimdienst überwacht. Im Sommer 2004 folgte eine zweite Anzeige. In den Folgejahren wurde gegen Tobias R. wegen eines Betäubungsmittelverstoßes, fahrlässiger Brandstiftung und Erschleichung von Sozialhilfe ermittelt.
Und noch im November 2019 schrieb er an die Bundesanwaltschaft und Staatsanwaltschaft Hanau einen Brief, in dem er erneut beklagte, dass ein Geheimdienst sich in seine Gedanken einklinke – und Deutschland nichts gegen „diese ständige Ausländerkriminalität“ tue.
Gleich nach seiner ersten Meldung 2002 landete Tobias R. für einige Stunden in einem psychiatrischen Krankenhaus, danach blieb er offenbar unbehandelt. In den nächsten Jahren wurden alle Ermittlungen gegen ihn eingestellt. 2013 erhielt Tobias R. bei der Waffenbehörde Main-Kinzig seine erste Waffenbesitzkarte, zwei weitere folgten. Eine wirkliche Zuverlässigkeitsprüfung gab es nicht. Tobias R. kaufte sich eine Sig-Sauer-Pistole, später noch eine Walther. Die Česká von der Tatnacht hatte er in einem Waffengeschäft ausgeliehen. Er schoss damit in Schützenvereinen und 2019 auch zwei mal bei Schießtrainings in der Slowakei.
Und Tobias R. bereitete seine Tat wohl von langer Hand vor. Ermittler fanden in seiner Wohnung eine Skizze, in der er offenbar den Heumarkt und vier Punkte einzeichnete, zwei davon passen zu den später angegriffenen Bars La Votre und Midnight. „Drin anfangen“, steht hier notiert. Dazu ist der Hinweis „min. 10“ notiert, was Ermittler als Zielmarke für die geplanten Morde deuten. Demnach hatte Tobias R. noch mindestens zwei weitere Örtlichkeiten im Visier – und noch mehr Tote geplant.
Sechs Tage vor dem Attentat stellte Tobias R. eine Webseite auf seinen Namen online. Darauf stand ein 24-seitiges „Skript“ und ein Video von ihm, aufgenommen in seinem Zimmer, ein karg eingerichteter Raum, mit Regalen voller Aktenordner. Der 43-Jährige redet darin erneut über Geheimdienste, nun aber legt er seinen rassistischen Hass offen: die Existenz von Migranten sei „an sich ein grundsätzlicher Fehler“. Ganze Völker müssten „vernichtet werden“. Er führe einen „Krieg“ – „gegen die Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“. Es ist eine offene Tatankündigung. Die offenbar niemand bemerkt.
„Warum wurde dieser Mann nie überprüft, obwohl er solche Sachen den Behörden schreibt?“, fragt Serpil Temiz. „Warum durfte er seine Waffen behalten? Weil er Deutscher ist? Das ist nicht zu akzeptieren. Keine Behörde hat ihre Arbeit gemacht. Auch darum wurden unsere neun Kinder getötet.“
Und die Fragen von Serpil Temiz gehen weiter. Bis heute weiß sie nicht, wie genau ihr Sohn starb. Der Attentäter hatte um kurz vor 22 Uhr im Kiosk auf Ferhat geschossen, in dessen Sterbeurkunde wird aber als Todeszeitpunkt 3.10 Uhr notiert. „Was ist mit meinem Kind in diesen Stunden passiert? Warum kann mir das keiner sagen? Lag er da und keiner hat sich um ihn gekümmert? Können Sie sich meine Gefühle dazu vorstellen?“ Wieder weint Temiz.
Zuletzt wurde zudem bekannt, dass die Notrufzentrale der Hanauer Polizei unterbesetzt war, mit nur zwei Arbeitsplätzen, eine Rufumleitung gab es nicht. Kurz nach Beginn des Attentats waren mit den ersten Notrufen die Leitungen bereits besetzt. Auch Vili Viorel Păun wählte auf seiner Verfolgungsfahrt hinter Tobias R. her drei Mal den Notruf – und kam kein Mal durch. Dann wurde er erschossen. Hätte sein Tod verhindert werden können, wenn er die Polizei erreicht und diese ihn zu Vorsicht und Abstand gemahnt hätte? Wären vielleicht auch die Morde in Kesselstadt vermeidbar gewesen? Der an Ferhat Unvar? Serpil Temiz glaubt das.
Serpil Temiz, Mutter des getöteten Ferhat Unvar, über den Vater des Attentäters
Und warum war in der Arena-Bar der Notausgang verschlossen? Hätten die Gäste sonst daraus fliehen können, auch Hamza Kurtović und Said Hashemi? Laut Stammgästen war die Tür seit Jahren verschlossen, auch die Polizei habe davon gewusst. Inzwischen stellten Hinterbliebene eine Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung, die Staatsanwaltschaft Hanau ermittelt.
Das Polizeipräsidium Südosthessen bestätigt, dass der Notausgang bei einer Kontrolle Ende 2017 verschlossen gewesen sei, was man der Stadt meldete. Dort heißt es, man habe es kontrolliert, bei späteren Kontrollen sei die Tür offen gewesen. Berichte, wonach die Polizei selbst anordnete, die Tür zu verschließen, um Fluchten bei Drogenrazzien zu verhindern, dementiert das Präsidium: Solch eine Weisung würde „niemals“ ergehen. Und auch zum unterbesetzten Notruf verteidigt sich die Polizei: Eine Verzögerung habe es nicht gegeben, man sei bereits wenige Minuten nach Bekanntwerden der Schüsse an den Tatorten gewesen.
Aber die Fragen beschäftigen nun auch wieder die Politik. Der hessische Landtag diskutierte die Vorgänge, zuletzt der Innenausschuss am vergangenen Donnerstag.
Für Serpil Temiz stellt sich aber noch eine andere Frage, eine zu ihrer Nachbarschaft: Welche Rolle spielte der Vater des Attentäters, Hans-Gerd R.? Auch dieser sei seit Langem als Querulant bekannt, schon vor Jahren ermittelte die Polizei gegen ihn wegen Beleidigung und falscher Verdächtigung. Und offenbar teilt er den Wahn seines Sohnes. Schon 2004 stellte auch Hans-Gerd R. eine Anzeige, dass seine Familie bespitzelt werde. Ein Psychiater attestiert dem Vater in einem Gutachten, dass dieser sich dieser „generell mit dem Sohn solidarisiert“ und „auch inhaltlich einige von dessen Wahnthemen übernimmt“. Es liege ein geteilter Wahn nahe, eine „Folie à deux“.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auch in der Tatnacht, nachdem sein Sohn spätestens gegen 20.30 Uhr vom Attentat zurückgekehrt war, wollen zwei Zeugen Hans-Gerd R. noch vor dessen Haus auf der Straße gesehen haben, das Auto seines Sohnes inspizierend. Später wird laut Ermittlungsakten auf seinem PC mehrmals die Internetseite des Sohnes aufgerufen. Den Ermittlern sagte der Rentner indes, er habe ab 20 Uhr geschlafen. Gab es Gespräche des Vaters mit seinem Sohn nach der Tat? Wusste er im Vorfeld etwas von den Morden?
Laut Aktenlage erschoss Tobias R. wohl erst gegen 1 Uhr seine bettlägerige Mutter, später im Keller sich selbst. Seinen Vater ließ er am Leben. Die Polizei hatte da schon seit etwa 23 Uhr das Haus umstellt. Ein Betreten wagte sie zunächst nicht, fürchtete Sprengfallen. Erst um 3.03 Uhr stürmte sie doch die Wohnung – und brachte Hans-Gerd R. aufgrund seines verwirrten Zustands ins Krankenhaus.
Die Bundesanwaltschaft führt Hans-Gerd R. als Zeugen. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass er in den Anschlag involviert gewesen sei, sagte ein Vertreter im hessischen Innenausschuss. Keine Schmauchspuren, auch keine Hinweise auf ein Mitschreiben am Tatpamphlet.
Viele Opferfamilien aber glauben nicht, dass der Vater in der kleinen Wohnung und bei so ähnlichen Einstellungen nichts von den Anschlagsplänen mitbekam. Haben sie recht, hätte das auch juristische Folgen. Infrage käme dann etwa der Vorwurf der psychischen Beihilfe. Und dann könnte es doch noch einen Prozess zu dem Anschlag geben. Bisher fällt dieser aus, weil der Attentäter tot ist. Nur ein Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft ist geplant.
Für Serpil Temiz bedeutet der Vater des Attentäters aber auch: Angst. Denn der 73-Jährige gibt keine Ruhe. Schon bald nach der Tat verschickte er mehrere Beschwerden und Strafanzeigen an die Bundesanwaltschaft und weitere Behörden. Die Durchsuchung seines Hauses in der Tatnacht zeigte er als Freiheitsberaubung und Verletzung der Menschenwürde an. Sein Sohn werde grundlos öffentlich verunglimpft, er habe das Attentat gar nicht verübt, sondern eine „Geheimorganisation“.
Und Hans-Gerd R. holt noch weiter aus. Der Politik wirft er in seinen Schreiben „Hetze und Volksaufwiegelung“ vor, Bürgermeister Kaminsky Volksverhetzung, weil dieser sagte, „die Opfer waren keine Fremden“. Es gebe eine „Benachteiligung meiner Rasse, mithin des deutschen Volkes“. Der Rentner verweist auf die Sarrazin-Bücher. Der Preis, um Deutschland zu retten, sei hoch: „Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben erfordern.“ Alle Gedenkstätten an die Opfer des Hanau-Attentats müssten entfernt werden. Die Internetseite seines Sohnes müsse wieder freigeschaltet werden. Und auch die Tatwaffen wolle er zurück.
Serpil Temiz und die anderen Opferfamilien erfuhren von den Schreiben des Vaters zunächst nichts. Stattdessen erhielten einige eine Ansprache der Polizei, auch zu Temiz kamen zwei Beamte: Man solle den Vater in Ruhe lassen, sonst werde dies Konsequenzen haben. „Wer schützt hier eigentlich wen?“, fragt Temiz. Sie habe keine Angst um sich, aber um ihre Kinder und die anderen Jugendlichen in Kesselstadt. „Dieser Mann ist gefährlich, und keiner macht was. Was hilft mir ein Therapeut, solange diese Gefahr da ist?“
Im Dezember versammelte sich Temiz mit anderen zu einer Kundgebung in der Nähe des Hauses von Hans-Gerd R., sie hielt ein Schild mit der Aufschrift „Wann werden die Behörden endlich aktiv?“. Piter Minnemann, einer der Überlebenden des Attentats, trat ans Mikrofon. „Wir leben in Angst“, sagte der 19-Jährige. „Und was wird gemacht? Nichts.“
Statt die Opfer und Jugendlichen zu schützen, erhalte der Vater Polizeischutz. Hans-Gerd R. trat da mit seinem Schäferhund vor sein Haus, wurde von der Polizei auf Abstand gehalten. Für die Opfer war auch das ein Affront. Serpil Temiz sagt, sie habe sich damals abgewendet, sie habe dem Mann nicht in die Augen schauen wollen. Und der Vater verschickte danach eine erneute Anzeige, in der er die Demonstranten als „wilde Fremde“ bezeichnete.
Auch Bürgermeister Kaminsky forderte die Sicherheitsbehörden auf, „schnell zu agieren“. Die Äußerungen des Vaters seien „unerträglich“. Die Polizei will sich dazu nicht äußern: Der Mann sei keine Person des öffentlichen Lebens, sagt ein Sprecher. Die Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt aber, dass sie am 2. Februar gegen Hans-Gerd R. Anzeige wegen Beleidigung erhob – wegen dessen Anzeige nach der Kundgebung. „Solche rassistischen Beleidigungen sind nicht tolerabel und werden von der Staatsanwaltschaft Hanau mit aller Konsequenz verfolgt.“ Den Familien ist das aber zu wenig.
Der Umgang mit Hans-Gerd R. ist nicht einzige Punkt, bei dem sich die Hinterbliebenen allein gelassen fühlen. Auch um ihre Opferhilfen gibt es Streit. Direkt nach der Tat bekamen die Familien Soforthilfen vom Bund, die Eltern 30.000 Euro, Geschwister 15.000 Euro. Doch für viele Angehörige – gerade die, die nicht arbeiten können – wird das Geld langfristig nicht reichen. Und das Land Hessen zahlte den Familien bisher: nichts.
Opferberatungsstellen forderten deshalb bereits vor Monaten auch von Hessen einen Fonds für die Hanau-Opfer. Zuletzt beschloss der Landtag tatsächlich einen Opferfonds von zwei Millionen Euro. Der allerdings soll nun generell für Opfer von Straftaten bereitstehen. Die Hanau-Betroffenen reagierten irritiert: Solle man nun mit anderen um die Hilfsgelder streiten?
„Taten statt Worte“
Serpil Temiz und die anderen haben sich vernetzt, organisieren Kundgebungen, sprechen in der Öffentlichkeit, reichen Anzeigen ein, wo sie Ermittlungsfehler sehen. Sie treffen sich regelmäßig mit Kaminsky, sprachen beim Bundespräsidenten in Berlin vor, fordern offensiv „Taten statt Worte“ ein. Und am Sonntag, noch vor dem offiziellen Gedenken, wollen einige von ihnen mit der „Initiative 19. Februar“ in einer Videokundgebung „die Kette des Versagens“ beim Attentat offenlegen und eine wirkliche politische Zäsur einfordern.
Serpil Temiz übergab schon auf der ersten Gedenkfeier in Hanau, kurz nach der Tat, Angela Merkel einen Brief. Das Attentat müsse die Kanzlerin dazu bringen, „endlich die Gesellschaft gegen Rassismus zu erwecken“, stand dort drin. Es brauche eine „lückenlose Aufklärung“ des Attentats, lebenslange Unterstützung der Familien und eine Stiftung „gegen Hass und Rassismus“.
Acht Monate später schritt Temiz selbst zur Tat: Sie gründete am 14. November, dem Geburtstag von Ferhat, eine antirassistische Bildungsinitiative, benannt nach ihrem Sohn. Die Benachteiligungen in der Schule, die Ferhat erlebt habe, das solle sich nicht wiederholen, kein Kind und keine Mutter solle das noch mal erleben, sagt Temiz. „Das macht Familien kaputt.
Warum müssen wir immer um Akzeptanz bitten? Alle sollen die gleichen Rechte haben.“ Temiz will nun mit einem guten Dutzend Jugendlichen antirassistische Workshops an Schulen geben, darunter frühere Freunde von Ferhat. Sie will Lehrer:innen sensibilisieren und Mütter vernetzen. Die erste Veranstaltung findet am Montag in einer Hanauer Berufsschule statt, auch Bürgermeister Kaminsky wird dabei sein.
Es ist auch dies eine Bilanz ein Jahr nach dem Anschlag. Dass der Attentäter schreckliches Leid in neun Familien angerichtet hat. Aber dass diese Familien mehr sind als Opfer, sie haben der Tat einen Aufbruch entgegengesetzt. Der Attentäter und sein Vater, auch deren Hass, das gehört zum Gestrigen. Serpil Temiz und die anderen aber arbeiten an der Zukunft. An einer neuen Generation, jenseits des Hasses. Wenn das gelinge, sagt Serpil Temiz, dann seien Ferhat und die anderen nicht umsonst gestorben.
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