Bürgerwissenschaft wird Forschungsobjekt: Willkommene Unterstützung

Die Laien von Citizen Science sind in der Wissenschaft angekommen. Sie widmen sich immer mehr Projekten – und sind selbst Forschungsobjekt geworden.

An Frau betrachtet eine Larvenhaut eine Libelle auf einem Blatt

Interessierte Bürger und Bürgerinnen helfen bei der Bestandsaufnahme der biologischen Vielfalt Foto: Bodo Schackow/dpa/picture alliance

BERLIN taz | Ursprünglich war „Citizen Science“ dafür gedacht gewesen, dass wissenschaftliche Laien den professionellen Forschern empirische Hilfsdienste leisten, etwa beim sprichwörtlichen Fliegenbeinzählen. Heimlich, still und leise ist aber aus der Bürgerforschung selbst eine Wissenschaft geworden, wie sich aus dem jetzt vorgelegten Kompendium „The Science of Citizen Science“ erschließt. Unterdessen werden über einen Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) weitere 15 Citizen-Science-Projekte mit neun Millionen Euro gefördert.

Herausgegeben wurde das neue Standardwerk der Bürgerforschung, das auf 520 Seiten über 100 Autoren aus 22 Ländern versammelt, von Katrin Vohland, der neuen Generaldirektorin des Naturhistorischen Museums in Wien. Zuvor hatte sie das Thema lange Zeit am Berliner Naturkundemuseum betreut. Dem über Open Access frei zugänglichen Buch liegt die vierjährige Arbeit eines europäischen Netzwerks zugrunde.

Dargestellt wird die thematische Bandbreite der Bürgerforschung, neue Methoden der Datengewinnung und Ansätze zu ihrer Qualitätssicherung bis hin zu den Wirkungen in das Wissenschaftssystem. „Darüber hinaus bietet das Werk praktische Unterstützung zur Umsetzung von Projekten und adressiert auch neu aufkommende Themen wie beispielsweise Citizen Science und künstliche Intelligenz“, betont Katrin Vohland.

Die Autoren stellen fest, dass Citizen Science „zunehmend von der politischen Ebene wahrgenommen“ werde. Zum einen würden die Daten geschätzt, zum anderen die „Erhöhung der Wissenschaftsmündigkeit als solche“. Bürgerforschung spiele entsprechend „in nationalen Bildungsoffensiven und auch in der europäischen Forschungs- und Innovationspolitik eine Rolle“. In Deutschland wird von den Akteuren der Szene – das sind Vertreterinnen und -vertreter aus Wissenschaft, Museen, Politik und Förderorganisationen – derzeit an einem „Weißbuch“ gearbeitet, das bis Ende 2021 eine „allgemein gültige Strategie für die Bürgerforschung“ formulieren soll.

Die einstmals frei durch die Landschaft streifenden Naturliebhaber, die ihre Beobachtungen genau zu Papier bringen – legendär sind die Krefelder Insektenzähler, die den Artenschwund dokumentierten – werden inzwischen von der Wissenschaft und der Forschungspolitik an die Hand genommen. Immer in gut gemeintem Sinne. Auch die neun Millionen Euro aus dem neuen Fördertopf des BMBF sind in dieser Weise gedacht.

Großes Interesse an Bürgerwissenschaften

15 Projekte werden damit unterstützt – immer als Gespann einer wissenschaftlichen Einrichtung mit einer zivilgesellschaftlichen Organisation. „Wir wollen die Bürgerforschung in Deutschland nachhaltig im ­Wissenschaftssystem verankern“, erklärte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek als Zielsetzung. „Gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie zeigt sich, wie wichtig und ertragreich eine stabile Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sein kann“, so die Ministerin. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Wissenschaft und Forschung „war noch nie so groß wie jetzt“.

„Uns hat die thematische Vielfalt der eingereichten Projekt­ideen begeistert“, erklärt Ortwin Renn, Leiter des Instituts für Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam, der der elfköpfigen Auswahljury vorsaß. Bei der Auswahl aus rund 80 Einreichungen wurde darauf geachtet, dass das „neue Level der Bürgerforschung“ (Renn), eine wirksame Beteiligung auch an der Nutzung der Ergebnisse, zur Geltung komme. So untersucht das Projekt „CS:iDrop“ gemeinsam mit der Uni Bochum die Qualität des Trinkwassers, wie es aus dem Wasserhahn kommt. Auf den letzten Metern durch alte Bleirohre können sich andere Belastungen ergeben als im Wasserwerk. Die Daten und Ergebnisse der Wasserprüfer werden auf einer openSenseMap veröffentlicht.

Beim Projekt „IGAMon-Dog“ bringt der Verein Wildlife Detection Dogs in Kooperation mit dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen e. V. in Berlin Spürhunde der besonderen Art zum Einsatz. Sie sollen mit ihrem Geruchssinn in der Flora bestimmte „Invasive und gebietsfremde Arten“ (IGA) aufspüren. Die gewonnenen Daten bilden für Forscher die Grundlage für die Modellierung der Ausbreitungsprozesse der „Pflanzen-Migranten“. Die Ergebnisse des Projektes, so eine Zielstellung, „tragen so zur Planung und Umsetzung gezielter und effektiver behördlicher Maßnahmen bei“.

Das Projekt „FamGesund“ will die Gesundheitskompetenz in solchen Familien stärken, in denen ein Angehöriger mit einer schweren Krankheit zu kämpfen hat. Dazu arbeitet das Berliner Alexianer Krankenhaus Hedwigshöhe mit der Katholischen Hochschule für Sozialwesen zusammen. Die gemachten Erfahrungen sollen später breit gestreut werden und zwar in Gestalt eines sogenannten Familienwissenschaftsladens. In ihm soll, wie es heißt, „ein nachhaltiger Dialog zwischen Wissenschaft, Praxis und Bür­ge­r*in­nen zum Thema Familiengesundheit ermöglicht“ werden. Ein interessanter Rekurs: ­Heutige Bürgerforschung greift auf eine Frühform der zivilgesellschaftlichen Wis­sen­schaftsan­eig­nung – die Wissenschaftsläden der 80er Jahre – zurück.

Überhaupt ist das Bürgerengagement für wissenschaftlichen Kenntnisgewinn keine Erfindung der heutigen Citizen-Science-Bewegung, ist die Meinung von Martina Löw. Sie leitet das Freiwilligenmanagement beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und war in der BMBF-Jury an der Prüfung der Projekte mit Ökobezug beteiligt. „Bürgerforschung ist für uns sozusagen ein altes Geschäft“, bemerkt sie für ihre Umweltschutzorganisation mit mehr als 500.000 Mitgliedern. Deren Naturbeobachtungen fließen in die zahlreichen Arbeitskreise zu Pflanzen und Tieren. „Die Erstellung der Roten Listen der bedrohten Arten wäre ohne die Arbeit unserer Ehrenamtler nicht möglich“, hebt Löw hervor.

Als besonderes Beispiel verweist sie auf das Wildkatzen-Monitoring, bei dem über 1.600 Mitglieder des BUND in den letzten Jahren die Auswilderung der vom Aussterben bedrohten Tierart aktiv begleitet haben. Sie legten „Lockstöcke“ für die Tiere an, um auf diese Weise ihren Bestand zu erfassen, und sicherten deren Spuren im Wald, um den Fortschritt der Tierschutzaktion zu dokumentieren. Mit Erfolg: „Die Wildkatze verbreitet sich in Deutschland wieder“, freut sich Martina Löw. In einem weiteren Großprojekt wird aktuell der Verbreitung des Gartenschläfers nachgeforscht, und den Auswirkungen, die der Klimawandel darauf hat.

Wenn auch die traditionelle Verortung der Bürgerforschung besonders im Naturschutzbereich aber auch in Vereinen für Lokalgeschichte, nach wie vor bestehen bleibt, so fällt doch auf, dass es parallel zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bürgerforschung in den letzten Jahren keine vergleichbare Selbstorganisation auf zivilgesellschaftlicher Seite gegeben hat.

Zwar gibt es eine Plattform im Internet („Bürger schaffen Wissen“) – dankenswerter Weise bereitgestellt von der Wissenschaft – die kontinuierlich neue Projekte vorstellt; inzwischen über 100 aus allen Disziplinen. Aber es gibt im Vereinsland Deutschland bisher keinen eingetragenen Verein, der die vielfältigen Citizen-Science-Gruppen bündelt, als ihr Sprachrohr und ihre Interessenvertretung agiert. Auch klassische Aktivitäten für soziale Bewegungen, wie eine Jahreskonferenz oder eine Mitgliederzeitschrift, fehlen bislang. Citizen Science – so hat es den Anschein – ist in Deutschland zwar auf Seiten der „Science“ überaus aktiv, aber bei den „Citizens“ noch eher unterentwickelt.

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