EuGH zu Gründen für subsidiären Schutz: Leichenzählen soll nicht genügen
Der Generalanwalt am EuGH kritisiert die deutsche Rechtsprechung zum subsidiären Schutz. Anlass ist der Fall von zwei geflüchteten Afghanen.
Konkret geht es um zwei Afghanen aus der umkämpften Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans an der Grenze zu Pakistan. Dort kämpfen nicht nur Regierungstruppen gegen Aufständische, sondern auch Taliban gegen den IS und umgekehrt. Alle Seiten nehmen keine oder wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die beiden Afghanen beantragten in Deutschland subsidiären Schutz, der seit 2004 aufgrund von EU-Recht für Bürgerkriegsflüchtlinge möglich ist. Voraussetzung ist, dass bei der Rückkehr das Leben oder die körperliche Unversehrtheit wegen eines bewaffneten Konflikts „ernsthaft“ bedroht ist.
Doch wie schlimm müssen die Verhältnisse im Heimatland sein, dass schon die bloße Anwesenheit zur Lebensgefahr wird? Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig macht bisher die Vorgabe, dass zunächst die Zahl der Bürgerkriegstoten in einer Region mit deren Einwohnerzahl zu vergleichen ist. Wenn weniger als 0,125 Prozent der Bevölkerung – das ist eine von 800 Personen – jährlich getötet werden, dann müssen andere Kriterien gar nicht mehr geprüft werden.
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim zweifelte jedoch, ob diese Vorgabe mit EU-Recht vereinbar ist und legte den Fall dem EuGH vor. Dort hat jetzt der estnische Generalanwalt Pikamäe seine Schlussanträge vorgelegt.
Pikamäe hält die quantitative Prüfung des BVerwG für eine falsche Anwendung des EU-Rechts. So seien schon die zugrunde gelegten Zahlen unzuverlässig. Oft wisse niemand die genaue Zahl der Todesopfer. Aber auch die Bevölkerungszahl könne sich durch Fluchtbewegungen und Vertreibungen schnell ändern. Außerdem könnten aktuelle Eskalationen zu Gefahren führen, die sich noch gar nicht in statistisch erfassten Opferzahlen widerspiegeln.
Der Generalanwalt empfahl daher die Gefahr für RückkehrerInnen durch eine „Gesamtwürdigung“ aller relevanten Tatsachen festzustellen. Dabei könne die Zahl der Todesopfer eine Rolle spielen, aber zudem auch die Art der Kampfhandlungen, die Dauer des Konflikts und die Zahl der Verwundeten. Der EuGH wird in einigen Wochen entscheiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Übergriffe durch Hertha-BSC-Fans im Zug
Fan fatal
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Humanitäre Lage im Gazastreifen
Neue Straßen für Gaza – aber kaum humanitäre Güter
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein