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Ärztin über Genitalverstümmelung„Wir dürfen nicht wegschauen“

Cornelia Strunz hat das erste deutsche Fachbuch zu weiblicher Genitalver­stümmelung mit herausgegeben. Betroffene können oft nicht darüber sprechen.

Extreme Gewalt: Modelle, die die Auswirkungen von weiblicher Genitalverstümmelung erklären Foto: Fabian Weiss/laif
Patricia Hecht
Interview von Patricia Hecht

taz: Frau Strunz, es gibt keinen einzigen bekannten Fall in Deutschland, bei dem weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wurde. Sie haben nun das erste deutschsprachige Fachbuch zum Thema herausgegeben. Wozu braucht es das?

Cornelia Strunz: Das braucht es, weil trotzdem sehr, sehr viele Frauen in Deutschland leben, die beschnitten wurden. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes geht von 74.000 Mädchen und Frauen aus. Sie wurden in ihren Heimatländern genitalverstümmelt, meisten im Alter von vier bis vierzehn Jahren, und kamen irgendwann nach Deutschland.

Wie kommt es, dass das Thema trotz der vielen Betroffenen so wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekommt?

Für viele Frauen gehören die Beschwerden, die sie haben, einfach dazu: die Schmerzen, die Angst vor Berührung und Sexualität, dass das Menstruationsblut kaum abfließt oder dass sie 20 Minuten zum Wasserlassen brauchen. Und auch wenn sie wissen, dass sie beschnitten sind, bleibt es für viele ein Tabu, darüber zu sprechen.

Manche wissen es gar nicht?

Viele wissen es nicht, das stelle ich auch in meiner Sprechstunde immer wieder fest. Ich kläre sie dann behutsam auf. Bei mir rufen aber auch immer wieder KollegInnen an, GynäkologInnen, die sagen: Ich habe hier eine Frau, die ist beschnitten, aber ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen soll und wie ich ihr helfen kann. Auch deshalb haben wir das Buch gemacht.

Es ist vor allem für MedizinerInnen gedacht?

Einerseits soll es auch für medizinische Laien verständlich erklären, was weibliche Genitalverstümmelung bedeutet. Deshalb gibt es zum Beispiel Erfahrungsberichte ehemaliger Patientinnen: Was ist ihnen widerfahren, was bedeutet das für sie und ihr Leben? Menschen, die mit Betroffenen arbeiten, ordnen zudem ein, woher die Praxis kommt und wie die rechtliche Situation hierzulande ist.

Im Interview: Cornelia Strunz

49, ist Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie sowie Oberärztin am Desert Flower Center im Berliner Krankenhaus Waldfriede.

Zudem richtet sich das Buch auch gezielt an medizinisches Personal: ÄrztInnen und KollegInnen aus den Pflegeberufen, Hebammen zum Beispiel. Wenn die nie zuvor gesehen haben, wie eine Frau aussieht, die komplett zugenäht ist und bei der es nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung zum Urinieren gibt, können sie in der Praxis auch nicht damit umgehen. Daraus entsteht Scheu, die Frauen zu behandeln.

In den Erfahrungsberichten schreiben Frauen von Glasscherben, mit denen ihnen Klitoris und Schamlippen herausgeschnitten und Dornen, mit denen sie bis auf eine winzige Öffnung verschlossen wurden. Was unterscheidet weibliche Genitalverstümmelung von männlicher Beschneidung?

Das ist überhaupt nicht vergleichbar! Würden Männer so beschnitten, wie Frauen beschnitten werden, hieße das, man würde den ganzen Penis entfernen. Weibliche Genitalverstümmelung ist eine extrem gewaltvolle Praxis. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben 10 Prozent der Betroffenen an den akuten und 25 Prozent an den langfristigen Folgen.

Ganzheitliche Behandlung

Die Klinik

Das Berliner Desert Flower Center wurde 2013 gegründet, um Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, ganzheitlich zu behandeln. Dazu zählen unter anderem psychologische Beratung, die Verminderung von Geburtsrisiken und die chirurgische Rekonstruktion von Genitalien. www.dfc-waldfriede.de

Das Buch

Uwe von Fritschen, Cornelia Strunz, Roland Scherer (Hrsg.): „Female Genital Mutilation. Medizinische Beratung und Therapie genitalverstümmelter Mädchen und Frauen“. De Gruyter Verlag, Berlin 2020, 218 Seiten

Zum Teil sind die Geschichten, die im Buch erzählt werden, unfassbar grausam – zum Beispiel die einer Geburt, bei der das Baby durch die Verstümmelungen im Geburtskanal feststeckte. Die Frau musste großflächig aufgeschnitten werden, das Baby starb dennoch. Auch die expliziten Fotos, die Sie zeigen, sind zum Teil kaum zu ertragen. Muss das sein?

Wir dürfen nicht wegschauen. Einer Frau, die bei uns in der Klinik war, ist genau das passiert, was Sie gerade beschrieben haben. Sie war schwerst traumatisiert. Diese Frauen leben hier, wir sind hier mit ihren Problemen konfrontiert und müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Unser Ziel ist auch, über die furchtbaren Folgen von weiblicher Genitalverstümmelung aufzuklären. Wir müssen zeigen und sehen, welches Leid die Frauen ertragen – und dass es dafür medizinische Hilfe gibt.

Sie schreiben auch: „Die Angst vor dem Geschlechtsverkehr mit dem Ehepartner kann durch die Rekonstruktion vermindert werden.“ Heißt das, dass eine normale Sexualität trotz einer Operation nie lebbar sein wird?

Bei vielen Frauen ist ganz tief verwurzelt, dass jede Berührung schmerzhaft ist. Die Verstümmelung ist ja gerade darauf angelegt, dass Sexualität mit Qualen und Festhalten und Gewalt einhergeht. Unsere Aufgabe ist es, in jedem Einzelfall zu beraten und zu schauen, was möglich ist. In vielen Fällen sind wir dafür auf Spenden angewiesen.

Manche Frauen können nach einer Rekonstruktion Nähe zulassen, andere nicht. Und viele Frauen wollen auch gar keine Operation – weil sie Angst davor haben oder weil es letztlich auch ein Aufbegehren gegen die eigene Kultur und die Familie im Heimatland ist. Aber wenn sie sich dafür entscheiden, höre ich nach der Operation oft, dass sich die Frauen viel wohler in ihrem Körper fühlen, viel weiblicher.

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7 Kommentare

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  • Es wäre noch wichtig gewesen zu erwähnen (auch wenn es thematisch um das "Danach" geht), dass die Beschneidung in KEINER der Religionen in deren Schriften angeordnet wird, sondern im Gegenteil eine Verletzung der Regeln darstellt - weshalb sie meist auch mittlerweile offiziell schon länger verboten ist, nicht nur auf rechtlicher Ebene, sondern auch religiös.



    Aber leider ist das so tief verwurzelt, dass sogar beschnittene Frauen das immer noch ihren Töchten antun.

  • Kommentar entfernt. Bitte beachten Sie die Netiquette.

  • Artikelzitat: "Die Verstümmelung ist ja gerade darauf angelegt, dass Sexualität mit Qualen und Festhalten und Gewalt einhergeht. "

    Warum? Warum macht eine Religion so etwas? Und was bringt das den Männern? Wenn die Ursachen für diese Genitalverstümmelung nicht angegangen werden, wird diese Praxis immer weiter gehen. Und es gibt 200 Millionen Frauen auf dieser Welt, die das erdulden mussten.

    Cornelia Strunz. Eine tolle Ärztin. Das ZEIT-Magazin brachte auch schon mal einen Artikel über sie:

    www.zeit.de/zeit-m...dung-frauen-klinik

  • Dazu gehört eigentlich auch ein Debatte über jüdische bzw. muslimische Beschneidung.



    Das ist in meinen Augen religiöse Körperverletzung und sollte endlich auch diskutiert und bestenfalls abgeschafft werden.

    • @Stefan L.:

      Die Entfernung der Vorhaut am Penis - also die von Juden und Muslimen praktizierte Beschneidung - geht darauf hin zurück, dass es extrem schädliche Entzündungen des Penis geben kann, wenn zwischen Vorhaut und Penis nicht die nötige Hygiene herrscht. Was in Lebensräumen, in denen viel Sand ist - auch oft in der Luft - ziemlich häufig vorkommen kann. Es wird aber auch aus medizinischen Gründen in nicht-religiösen Kontext immer wieder gemacht. Also: grundlegend eine Hygienemaßnahme, die aber bei schlechter Durchführung masdive Körperverletzung sein kann.



      Bei der Beschneidung der Frauen ist das genau umgekehrt: hier werden gesunde Frauen und Mädchen lebenslang krank und hygienisch problematisch gemacht. Grund: Besitzanspruch der Männer! Nur bei einer Frau, die Sex als extrem schmerzhaft empfindet und daher massiv ablehnt, können sie sich sicher sein, dass diese nicht fremd gehen. Denken sie. Und vergessen, dass es viel mehr die Männer sind (siehe Bordelle etc.). Wenn man Männer auf so brutale Weise auf Treue trimmen würde...

    • 1G
      17900 (Profil gelöscht)
      @Stefan L.:

      Völlig richtig. Aber das hatten wir alles schon einmal vor ein paar Jahren!



      Rausgekommen ist dabei nichts!

  • Mir ist ohnehin der Sinn der Beschneidung (egal, ob von Jungen oder Mädchen) unklar. Ist es nur deshalb, weil 2 mächtige Weltreligionen (die sich ansonsten unversöhnlich gegenüberstehen) dies für unverzichtbar halten? Ist Erklärung überflüssig, weil es nun mal „so ist“ und deshalb „immer so bleiben“ muss?



    Oder hat etwa Gott, der Schöpfer, ausgerechnet bei seiner „Krone der Schöpfung“, dem Menschen, geschludert, so dass er/sie einer „Nacharbeit“ bedarf?



    Man kann ja den christlichen Religionen vieles ankreiden. Aber für die Abschaffung der Beschneidung verdienen sie einen Pluspunkt. (Mal abgesehen von mehrheitlich christlichen Ländern wie Äthiopien und Sierra Leone, wo angeblich immer noch beschnitten wird)



    Und OHNE Beschneidung sind Christen auch keine schlechteren Menschen, als Juden und Moslems!