Feministischer Jahresrückblick: Wut in den Augen
2020 war für die Gleichberechtigung ein dunkles Jahr, gleichzeitig aber auch eines des feministischen Protestes. Sicher ist: Die Kämpfe gehen weiter.
Im Frühling sah es kurz so aus, als könnte sich tatsächlich etwas ändern. Nachdem die erste Coronawelle in Europa angekommen war, wurde über ungleichmäßige Verteilung unbezahlter Care-Arbeit und über Arbeitsbedingungen von Pfleger:innen und Kassierer:innen diskutiert. Themen, die relevant für die Gleichberechtigung sind und in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit kaum sichtbar waren. Doch viel mehr als ein bisschen Applaus vom Balkon folgte nicht.
Neun Monate später zeigt sich nun, was Expert:innen schon früh befürchteten: Frauen sind die sozialen Verliererinnen der Krise. Das Bild der Pandemie als Brennglas, das bestehende soziale Probleme und Ungerechtigkeiten vergrößert, hat sich bestätigt. So übernehmen Frauen noch mehr unbezahlte Care-Arbeit, häusliche Gewalt gegen sie nimmt zu, und auch wirtschaftlich leiden sie stärker.
Der für viele ohnehin schon herausfordernde Alltag wird zu einer Doppel- und Dreifachbelastung. Alleinerziehende und Kranke, Frauen in Systemerhalterinnenjobs und in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, mehrfach Diskriminierte, solche mit Kindern und weitere, die Gewalt erfahren – diese sind es, die die Folgen der Krise am stärksten zu spüren bekommen. Und sie noch lange spüren werden. Corona wird die Gleichberechtigung um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückwerfen. Die meisten Regierungen der Welt haben zwar Maßnahmen ergriffen, um Frauen in der Krise zu schützen, doch sie werden nicht ausreichen, um einen Backlash zu verhindern.
Nun verläuft gesellschaftlicher Fortschritt selten linear, sondern meistens in Wellenbewegungen. Natürlich hat auch 2020 feministische Erfolge hervorgebracht: Gut drei Jahre nach dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung wurde mit Harvey Weinstein ein erster prominenter Täter verurteilt. Deutschland führt eine Frauenquote in Vorständen von börsennotierten Unternehmen ein, und in den USA wird zum ersten Mal eine Woman of Color Vizepräsidentin. Doch im Grunde sind es nur kleine Lichtblicke in einem – auch für die Gleichberechtigung – dunklen Jahr.
Höchstens Privilegierte profitieren
Die Phrase „Die Krise als Chance begreifen“ war in den vergangenen Monaten vermutlich so häufig wie kaum eine andere. Doch an der Pandemie und der von ihr verursachten Krise ist nichts gut; höchstens Privilegierte profitieren auf individueller Ebene. Auch diese Gewissheit wird dazu beigetragen haben, dass der feministische Protest 2020 enorm groß war.
Weltweit gingen Feminist:innen für reproduktive Rechte, gegen Gewalt, gegen autoritäre Systeme oder für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße, vernetzten sich über Ländergrenzen hinweg und zeigten, sich durch nichts und niemanden aufhalten wollen zu lassen.
Etwa die Pro-Choice-Bewegung aus Polen, die trotz Repressionsmaßnahmen mit Tausenden Menschen auf die Straße ging, zum Streik, zu Blockaden und kreativen Protestaktionen in Kirchen und leerstehenden Krankenhäusern aufrief. Der Protest richtete sich in erster Linie gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes, doch daraus wurde ein sozialpolitischer Kampf.
So fordern die Demonstrierenden auf den Straßen von Warschau und Poznań beispielsweise auch eine komplette Neubewertung der Reproduktions- und Pflegearbeit. Denn wenn ein Gesundheitssystem kaputtgespart wird, sind es in der Regel die Frauen, die auch diese Form der Mehrarbeit übernehmen.
Proteste weltweit
Und es ist nicht nur Polen, wo Frauen die Straßen dominieren. Auch die Demos in Belarus werden von Frauen angeführt, in Indien kam es zu Massenprotesten gegen sexualisierte Gewalt, in Israel fand im August nach einer Gruppenvergewaltigung einer 16-Jährigen ein feministischer Streik statt. Und in Argentinien wurde Ende Dezember nach monatelangen Kämpfen eine historische Abtreibungsreform auf den Weg gebracht.
Es sind die Bilder dieser Proteste, die von diesem Jahr im Gedächtnis bleiben werden. Mit Schildern in den Händen, Maske im Gesicht und Wut in den Augen auf den Straßen dieser Welt. Die Krise hat offene und versteckte Ungerechtigkeiten noch einmal sichtbarer gemacht.
Sie hat gezeigt, dass es nie nur um Geschlecht gehen kann, sondern jede Form der Marginalisierung mitgedacht werden muss, wenn man wirkliche Gleichberechtigung erkämpfen will. Und sie hat gezeigt, wie wichtig das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und Kämpfe um Gleichberechtigung sind. Wie gut, dass 2020 schon damit begonnen wurde.
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