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Aktion für Obdachlose in BerlinEin gedeckter Tisch

In Kreuzberg ist ein weihnachtlicher Treffpunkt für obdachlose Menschen entstanden. Die Initiative hofft, dass der Bezirk sie weiter gewähren lässt.

Tischlein deck dich: Kunst und Hilfe für Obdachlose am Maybachufer in Kreuzberg Foto: Florian Boillot

Berlin taz | Im Märchen deckt sich der Tisch von selbst. Am Neuköllner Maybachufer hilft eine fast siebzigjährige Frau nach, damit dort täglich Abendessen, Süßigkeiten und heißes Wasser für Tee und Kaffee bereitstehen. Auf einer der Plattformen, die vom Uferweg über die Böschung Richtung Kanal ragen, hat sie mit einem Freund einen weihnachtlich geschmückten Treffpunkt für obdachlose Menschen eingerichtet. „Es hat mit einem kleinen Schreibtisch angefangen“, sagt die Frau, die für die Öffentlichkeit Anneliese heißen möchte. „Den habe ich beim Spazierengehen gesehen, habe Eier gekocht und gedeckt“, sagt sie. „Dann haben alle mit angepackt.“

Inzwischen stehen weitere Tische, zwei Sofas, kleine Sessel, Stühle und ein Weihnachtsbaum mit Lichterkette auf der Plattform. An einer Kleiderstange hängen Klamotten zum Mitnehmen, daneben stehen Schuhe. Blickfänger ist ein blaugrünes Iglu-Zelt, in dem Anneliese eine Krippe eingerichtet hat: inmitten von Stroh liegt eine lebensgroße Babypuppe neben einer LED-Kerze, ein struppiger Spielzeugesel und ein Weihnachtswichtel mit roter Mütze leisten Gesellschaft.

Den mehrere Meter großen grün-weißen Schirm, der die Sofa­ecke vor Regen schützt, habe jemand auf dem Fahrrad aus Köpenick hergeschoben, erzählt Anneliese. Unter dem Schirm hängt ein Adventskranz, auch der Tisch ist weihnachtlich geschmückt, Desinfektionsmittel steht bereit. Die Ecke ist mit Planen etwas abgetrennt, ein Paravent dient als Tür, alte Fahrradschläuche halten alles zusammen. „Das hier ist ein Puzzle aus dem, was als Müll auf der Straße herumliegt“, sagt Anneliese. Nur die Lichterketten und die Puppe habe sie beigesteuert. Ein Bekannter malte ein Schild: „Tischlein deck dich für Obdachlose“, steht darauf. Passant*innen bringen Kleiderspenden, Schlafsäcke, Essen oder Geld vorbei.

Anneliese hat einen Blick dafür, was Menschen, die fast nichts besitzen, brauchen könnten – und ein Gespür für Dinge, die ihnen guttun. Wenn sie abends die Runde mit ihrem Hund geht und jemanden sieht, der sich in einem schlecht wärmenden Schlafsack zur Ruhe bettet, bietet sie an, einen der besseren, warmen Schlafsäcke vorbeizubringen, die sie über Spender*innen erhält.

Quark und Kartoffeln

Corona in der Kältehilfe

Infektionen Obdachlose Menschen erkranken laut Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) zunehmend an Covid-19. Dies zeigten Positiv-Ergebnisse bei Schnelltests in der Kältehilfe. Außerdem sei die Quarantänestation für obdachlose Menschen inzwischen voll belegt. Der Senat hatte im Frühjahr 16 Plätze eingerichtet, von denen 7 genutzt wurden. Sie werden nun auf 20 Plätze ausgeweitet.

Quarantäne Am Donnerstag ist eine Einrichtung der Kältehilfe mit 100 Plätzen in Friedrichshain geräumt worden, dort waren 10 Menschen positiv getestet worden. Sie bleiben zur Quarantäne in der Unterkunft, 45 Menschen gelten als direkte Kontaktpersonen und müssen in Hostels in Quarantäne. Initiativen kritisierten unter dem Motto #leavenoonebehindnowhere, dass die Infektionsgefahr in Gemeinschaftsunterkünften lange bekannt sei, und for­derten, Massenunterkünfte aufzu­lösen und die Menschen in Fe­rien­wohnungen und Apart­­ment­hotels unterzubringen. (usch)

Wenn ihr jemand ohne Winterschuhe auffällt und sie später ein Paar in der passenden Größe in den Kleiderspenden findet, legt sie die Schuhe beiseite, bis derjenige wiederkommt. Ihr fällt auf, wenn jemand keine Strümpfe trägt. Woher dieser Blick kommt? „Als Fünfjährige bin ich das erste Mal von zu Hause weg und habe ein paar Tage Platte gemacht“, sagt sie. Auch als Jugendliche habe sie auf der Straße gelebt.

Das Geld reicht auch bei ihr oft vorn und hinten nicht, trotzdem findet sie Wege, um Tee auszuschenken oder für 30 Personen Pellkartoffeln mit Quark zu kochen. „Wir hatten nicht genügend Teller, da haben wir sie einfach durchgerissen, und alle haben Quark und Kartoffeln auf einem halben Pappteller gekriegt“, sagt sie. „Das hat geschmeckt, die haben reingehauen wie die Kesselflicker.“

Freunde sagen ihr: „Du kannst aus Scheiße Bonbons machen.“ Doch was ihr nun seit mehreren Wochen am Maybachufer gelungen ist, scheint sie selbst zu erstaunen. „Ich hatte hier schon Tränen – Freudentränen“, sagt sie. „Die Leute freuen sich, dass sie etwas Weihnachtliches sehen.“ Nichtdeutsche Obdachlose kämen oft erst im Dunkeln. „Sie haben mehr Hemmungen, sie werden noch öfter nur beiseitegeschoben“, sagt Anneliese.

Sie selbst nennt den Ort ein Kunstprojekt. Mit dem Ordnungsamt sind sie im Kontakt: „Die wissen nicht so genau, wie sie uns einordnen sollen“, sagt Anneliese, sie hofft, dass sie bleiben dürfen. „Wenn hier ein Pavillon hinkäme, als fester Ort, an dem Obdachlose sich selbst organisieren, das wäre mein Wunsch“, sagt sie. „Das hier ist ja erst mal nur ein Provisorium, es ist uns gut gelungen, aber im Sommer kann man hier nicht weiter mit Weihnachtsdeko stehen.“

Selbstverwaltete Strukturen stärken

Im Bezirk hat man den Ort auf dem Radar – förmlich genehmigen könne man ihn nicht. Aber wegen der „Intention des Gabentisches“ und der „momentanen schweren Situation für Menschen, die kein Zuhause haben“, werde das Ordnungsamt nicht gegen das Tischlein vorgehen – solange die Coronabestimmungen weiter eingehalten würden, teilt eine Sprecherin mit. Für die Polizei könne man aber nicht sprechen.

Für die Sozialverwaltung ist es weiterhin ein Ziel, selbstverwaltete Strukturen unter wohnungs- und obdachlosen Menschen zu stärken. Senatorin Elke Breitenbach (Linke) hatte selbst sogenannte Safe Places ins Gespräch gebracht: mit Infrastruktur ausgestattete Flächen, auf denen obdachlose Menschen selbstbestimmt in Zelten oder Tiny Houses leben, von Sozialarbeiter*innen begleitet, und wo sie nicht vertrieben werden.

Allerdings tritt dieser Punkt vor der akuten Versorgung von obdachlosen Menschen aus Breitenbachs Sicht derzeit in den Hintergrund. „Die Idee der Safe Places ist nach wie vor wichtig, aber während der Pandemie nicht unsere höchste Priorität“, sagte sie.

Für Weihnachten hat Anneliese schon Kartoffelsalat und Würstchen organisiert. Bis dahin möchte sie noch jeden Tag selbst am Maybachufer stehen, Sachspenden sortieren, aufräumen, zum Hinsetzen und Zugreifen einladen, zwischendurch auch mal für Ordnung sorgen, falls es Stress gibt. „Dann können die Leute das selbst weitermachen, wir haben ja vorgemacht, wie es geht“, sagt sie. „Ich kümmere mich und rede mit ihnen, aber irgendwann ist man auch ein bisschen leer.“

Anneliese hat schon die nächsten Pläne. „Ich möchte im Sommer im Wald an einem See ein Projekt machen, wo obdachlose Menschen ein paar Tage hinkommen können und Urlaub machen“, sagt sie. „Ich muss nur noch eine sonnige Lichtung finden, ein bisschen versteckt, dann baue ich aus Fahrradschläuchen und Stöckern einen Weg dorthin.“

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2 Kommentare

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  • Offene Augen, ein gutes Herz und Tatkraft, Respekt Anneliese! Tolles Engagement!



    Es ist mehr Wert, als das politische Dauergesabbel vom "Weihnachten retten!", dass selten Obdachlose (zu Hause bleiben?) und Menschen an der Armutsgrenze, mit Hartz IV oder Grundsicherung im Alter einbezieht.



    Nichts ist in diesem Jahr zu lesen, von Weihnachtsfeiern / -essen für diese Bevölkerungsgruppen, die sonst von karitativen Einrichtungen und Kirchen ausgerichtet wurden. Corona trifft die Ärmsten auch beim "Fest der (materiellen) Liebe" besonders hart.

  • Liebe taz, ich habe einen kleinen Pavillon, den ich zur Verfügung stellen würde. Nur Regenschutz, 3x3 Meter. Wo genau ist denn das Projekt?