: Die goldenen 90er
Der Fall der Mauer öffnete Kreativen einen Spielplatz der Möglichkeiten in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Doch die Dekade offenbarte auch: Berlin und seine Bewohner hatten ein Geldproblem
Von Susanne Messmer
Es gibt einen Film, der das Lebensgefühl im Berlin der 90er auf eine Weise auf den Punkt bringt, die ziemlich selten ist. Der Film heißt „Das Leben ist eine Baustelle“, stammt aus dem Jahr 1997, und Regisseur Wolfgang Becker wurde sechs Jahre später viel mehr für seinen Film „Good Bye, Lenin!“ gefeiert. „Das Leben ist eine Baustelle“ erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Berliner und einer jungen Zugereisten. Er (Jürgen Vogel) trägt Jeansjacke mit Lammfellimitat und hält sich mit Jobs in Schlachthof und Supermarkt über Wasser. Sie (Christiane Paul) trägt lange Schals und Baskenmütze, macht experimentelles Theater und stellt die Nahrungsaufnahme sicher, indem sie sich selbst zu Büffets von irgendwelchen Kongressen einlädt.
Sie haben unheimlich viel gemein, diese zwei, und doch trennt sie sehr viel. Aber das hat mit dem Mauerfall schon damals nur noch herzlich wenig zu tun. Eigentlich fragt man sich während des Films kaum, ob die Figuren aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Man fragt sich eher, welches Verhältnis die beiden eigentlich zum Geld haben, das ständig fehlt. Für sie, die Bohemienne, scheint es einfach kein Thema zu sein. Er dagegen, das Arbeiterkind, weiß, dass Geldmangel keine gute Idee ist, wenn man so wenig wie möglich mit Geld am Hut haben will.
Berlin war nach dem Mauerfall für viele junge Leute ein Abenteuerspielplatz mit gigantischer Anziehungskraft – und zwar egal, ob man aus der DDR oder BRD kam. Plötzlich gab es in Ostberlin derart viele Brachen, leer stehende Gebäude, Ruinen, dass sich, wie der Berliner Fotograf Martin Eberle einmal sagte, jeder „einfach irgendwo ein Loch suchen und da seine Musik anmachen konnte“.
Man musste nur eine Woche lang nicht im Berliner Stadtteil Mitte unterwegs gewesen sein, und schon war in irgendeinem Keller, in einer Garage oder einem ehemaligen Bunker eine neue Bar, Galerie oder Kneipe mit ulkigem Namen wie Dienstagsbar, Bügelbar oder Im Eimer entstanden.
Es war die große Zeit der Improvisation und des Selberbastelns. In manchen Läden kostete der Caipirinha 2 Mark – und es kam trotzdem niemand. Andere hat so mancher oft besucht und nie von innen gesehen, weil es immer zu voll war und der beste Teil der Party, so beschloss man es dann halt, vor der Tür stattfand. Zum Beispiel war das so in der Galerie Berlintokyo in einem Hinterhof der Rosenthaler Straße. Der Club wurde 1996 von Designer, Unternehmer und Autor Rafael Horzon gegründet, um Werke angeblich unbekannter japanischer Künstler auszustellen, die in Wirklichkeit gar nicht existierten.
Überall herrschte chaotische Zwischennutzung und nebensächliche Nische; stets ging es ziemlich unsortiert zu. Berlin war viel mehr als die Hauptstadt der großen Techno-Schiffe E-Werk, Tresor und Loveparade – der coolen Läden wie Tacheles, WMF und Friseur, die in allen möglichen Büchern, Texten und Filmen sehr schön und treffend beschrieben worden sind, unter anderem von taz-Kollegen Ulrich Gutmair, unter anderem auf der Kulturseite des Berlinteils der taz.
Allein schon, wie es damals zuging: Auch als gänzlich unerfahrene freie Autorin bekam man dort fast jede Lesung, jeden Ort und jedes Phänomen unter, solange die Redakteurin oder der Redakteur noch nichts davon gehört hatte. Der 2007 verstorbene Redakteur Harald Fricke erzählte eigentlich allen, die es hören wollten, Journalistenschüler seien in dieser Redaktion nicht so gern gesehen: Sie seien einfach zu aufgeräumt, zu routiniert.
Dimitri Hegemann, Tresor-Chef
Ziemlich zusammengewürfelt standen skurrile Alltagsbeschreibungen neben Porträts von temporären Bands und Künstlern, die beispielsweise Teppiche aus Socken webten. Aus taz-Perspektive könnte man sagen, dass die Einführung der „Berliner Szenen“ im März 2000, einer Rubrik mit Alltagsbeobachtungen, das Ende der 90er in Berlin einläutete – denn nun war eine Hierarchie gefunden. Das Unwichtige durfte nur noch am Rand passieren. Das vermeintlich Bedeutsame rutschte nach oben.
Aber hat die taz auch berichtet, was außerhalb der Kulturszene in den 90ern passierte? Dimitri Hegemann, der Erfinder des Tresors, hat einmal gesagt: „Geld war damals kein Thema – man machte einfach. Man hat das überhaupt nicht so wirtschaftlich berechnet.“ Aber so ging es natürlich nicht jedem, wie der Film „Das Leben ist eine Baustelle“ eben zeigt: Während das Mädchen, so sympathisch sie auch rüberkommen mag, mit der ökonomischen Not spielt, muss der Junge ackern und buckeln, um wenigstens etwas zu beißen zu haben.
In den Jahren 1991 bis 2003 verschwanden in Berlin 300.000 Industriearbeitsplätze. Der Abbau der Doppelverwaltung binnen kürzester Zeit hat noch mal viele Stellen gekostet. Die Arbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an und erreichte 2005 mit über 19 Prozent ihren Höchststand. In Ostberlin wurde die Industrie fast restlos zerschlagen, Betriebsschließungen und Massenentlassungen gehörten zum Alltag.
Und im Westteil zogen viele Betriebe weg, weil die Berlinzulage als Ausgleich für die Inselsituation obsolet geworden war. Die Verschuldung der Stadt stieg von umgerechnet 5,5 Milliarden Euro im Jahr 1989 auf erschreckende 38 Milliarden Euro im Jahr 2001. Noch 2004 war das Bruttoinlandsprodukt der Stadt sogar niedriger als 1991.
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