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Polizei schiebt ruhige Kugel

Exekutionen wie die eines Terrorverdächtigen in London wären in Berlin unwahrscheinlich, glaubt der Chef der Gewerkschaft der Polizei: Hiesige Beamte würden „nicht so schnell durchdrehen“

von Otto Diederichs

Wie London oder Madrid kann auch Berlin zum „Zielspektrum für islamischen Terrorismus“ werden – davon ist die Chefin des Berliner Verfassungsschutzes, Claudia Schmid, überzeugt. Und letztlich zu verhindern sind Anschläge von zu allem entschlossenen Selbstmordattentätern kaum. Wie aber würden die deutschen Sicherheitskräfte nach einem vergleichbaren Terrorakt in Berlin (re)agieren? Konkret: Wäre ein Szenario wie jenes von vergangener Woche, als in der Londoner U-Bahn ein Verdächtiger (und wie sich herausstellte: Unschuldiger) von Polizeibeamten gezielt getötet wurde, auch in der deutschen Hauptstadt möglich? Immerhin hat Nochbundesinnenminister Otto Schily (SPD) bereits im April 2004 laut darüber nachgedacht: „Die Terroristen sollten wissen: ‚Wenn ihr den Tod so liebt, könnt ihr ihn haben.‘ “ Gilt also bald das Kommando „Shoot to kill“?

Nein, glaubt Eberhard Schönberg, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Unsere Leute drehen nicht so schnell durch.“ Schönberg verweist auf einen Vorfall vor einigen Monaten, als ein Rentner mit einer Panzermine im Moabiter Landgericht aufgetaucht war. „Auch damals hat keiner geschossen“, so der GdP-Chef, fügt aber hinzu: „Na ja, hätte natürlich auch schief gehen können.“

Rechtlich geregelt ist der polizeiliche Schusswaffeneinsatz in Berlin durch das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges (UzwG). Danach darf die Schusswaffe nur benutzt werden, wenn andere Maßnahmen „offensichtlich keinen Erfolg versprechen“ und nur „angriffs- oder fluchtunfähig“ machen. Unzulässig ist der Gebrauch gegen Kinder und wenn „dadurch erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden“.

Anfang 2003 fügte die rot-rote Koalition einen weiteren Abschnitt ein, wonach Fälle „der Notwehr und des Notstandes“ von diesen Regelungen unberührt bleiben. Auf den so genannten finalen Rettungsschuss, bei dem Vorgesetzte den Beamten einen tödlichen Schuss befehlen können, wurde indes verzichtet – in fast allen übrigen Bundesländern steht er hingegen in den Polizeigesetzen.

Nur über den Umweg über das im Strafgesetzbuch verankerte Nothilfe- oder Notwehrrecht können Berliner Polizeibeamte bewusst tödliche Schüsse abfeuern. Beruft sich ein Polizist auf diese Situation, etwa bei einer Geiselnahme, lassen sich solche Schüsse legitimieren. Generell folgt ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren, um zu klären, ob der Todesschuss gerechtfertigt war. Der Schütze muss die Verantwortung für sein Handeln stets persönlich tragen.

Bekannt sind in Berlin aus den vergangenen Jahren zwei Situationen, in denen auch die gezielte Tötung eines Geiselnehmers in das Einsatzkonzept einbezogen wurden: 1999 hatte ein Mann auf dem U-Bahnhof Kottbusser Tor einer Frau ihr Kind entrissen und es sechs Stunden lang mit einem Messer bedroht. Letztlich gelang die Befreiung unblutig, doch kein Täter sei dem Tod näher gewesen, sagte der Leiter der Berliner Spezialeinsatzkräfte (SEK) später. Im anderen Fall hatte 2003 ein flüchtiger, als gewalttätig bekannter Bankräuber einen Bus gekapert und die Fahrgäste als Geiseln genommen. Hier gab es die Lizenz zum Töten für die Beamten sogar schriftlich: „Eine Nothilfesituation für einen gezielten finalen Rettungsschuss liegt vor“, hieß es. Auch in diesem Fall war er nicht nötig.

Nach „Shoot to kill“ sieht es in Berlin zunächst nicht aus. Doch was nach einem eventuellen Anschlag wie in London an der Spree geschehen wird, kann derzeit niemand abschätzen.

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