piwik no script img

Nach der Demo gegen CoronamaßnahmenWelten lassen sich nicht wegseufzen

Alles ist kompliziert und durcheinander – und ich bin müde. Doch in der Kompliziertheit dürfen wir nicht vergessen, was man jetzt tun muss.

Manchmal fällt sogar die Entscheidung zwischen Marmelade und Konfitüre schwer Foto: imago

E s ist zu kompliziert und zu viel und damit meine ich alles. Das ist schon länger so, aber neulich fiel es mir im Supermarkt auf, als ich vor einem Regal voller Marmelade und Konfitüre stand, um Marmelade oder Konfitüre auszusuchen, obwohl ich eigentlich weder Marmelade noch Konfitüre besonders mag. Aber über dem Regal voller zuckrigem Brotaufstrich hing ein Lautsprecher und daraus tönte „No Scrubs“ von TLC. Gute Musik im Supermarkt ist selten, also musste ich da sein, und wenn man schon mal da ist, kann man auch was kaufen, was man nicht braucht, sagt der Kapitalismus. Ich stand also vor einem Regal voller Möglichkeiten, etwa zwei Meter von süß bis bitter, das ist nicht weit, und trotzdem liegen dazwischen Welten.

Alles ist zu kompliziert, spätestens seit der Globalisierung, allerspätestens seit Corona und allerallerspätestens, seit „eine bunte Mischung aus Menschen“ am vergangenen Wochenende mit Nazis demonstrierten und Nazis dann vor dem Sitz des Bundestags Fahnen schwenkten. Schwarz-weiß-rote Fahnen, hin und her, dazwischen auch mal schwarz-rot-gelbe, her und hin, es ist ja nicht weit von Gelb nach Weiß, und trotzdem liegen dazwischen Welten?

Alles ist kompliziert und durcheinander. Mich macht das müde und ich bin nicht allein damit. Wir verstehen die Welt nicht mehr, Komplexitätsmüdigkeit ist der neue Zeitgeist. Und der ist gefährlich. In schwachen Momenten wünschte ich, jemand würde mir sagen, welche Marmelade ich kaufen soll. In schwachen Momenten hoffen alle, „die Mitte“ wird’s schon richten. Wann wurde die Mitte noch mal entnazifiziert?

Zwischen Reichsflaggen und Reichkriegsflaggen

Ich mache das Internet auf und soll lernen, zu unterscheiden: zwischen Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungsskepsis, einer Reichsflagge und einer Reichskriegsflagge. Ich mache das Internet zu. Marmelade, Konfitüre. Ist es wirklich so kompliziert? Sind das die wichtigen Dinge, die wir lernen müssen?

Früher haben wir Menschen bewundert, die scheinbar auf alles Antworten hatten. Heute machen solche Leute misstrauisch. Ich würde mich gern brüllend auf den Boden werfen, wie ein Kind, dem alles zu viel ist. Aber ich seufze den Gedanken weg, weil Erwachsene das so machen. Man lernt sprechen und beginnt fast jeden Satz mit: „Warum“, irgendwann sagt man fast nur noch: „Weil“. Weil es halt so ist, wie es ist, kompliziert eben. Es gibt ein Überangebot an Marmelade, die ich nicht haben will, und ein Überangebot an Analysen, die von den falschen Fragen ausgehen. Wie kommen wir hier raus? Wer ständig sagt, dass alles kompliziert ist, übersieht, was dringend einfach sein muss.

Die Antwort auf Nazis vor dem Bundestag ist einfach und Erwachsensein darf nicht näher an Gewöhnung liegen als an Veränderung. 1933 und 2020 trennen 87 Jahre, das ist nicht viel und trotzdem liegen dazwischen Welten – aber diese Welten liegen da nicht, weil Menschen die Dinge weggeseufzt haben. Und die Welten sind längst nicht groß genug.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag.
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Gewöhnung vs. Veränderung würde sich auf das Drumherum beziehen, also hinnehmen oder revolutionieren.



    Gewohnheit vs. Veränderung würde sich auf das Selbst beziehen, also immer das selbe machen oder eben verschiedenes.

    Ich verstehe zwar was wohl mit "alte Rezepte" gemeint ist, möchte aber betonen, dass dies nichts mit alt oder neu zu tun hat. In allen Zeiten gab es gute und schlechte Rezepte. Wenn etwas in Vergessenheit gerät, kann es neu ohne weiteres schlechter sein.



    Ich werde z.B. wohl nie mehr die leckeren Brötchen aus meiner Jugend kaufen können, um beim Bild zu bleiben.

    Es gab auch immer bessere und schlechtere Zeiten, das wechselt sich wohl ab. Ich hab ein altes Kochbuch um 1900 rum oder so...da läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Allerdings mit viel Ei und Sahne und anderen Sünden...also lecker.

  • Also nur teutsche Flaggen wehrten ja vorm Reichstag nicht, da gab es auch regenbogenflaggen, türkische Flaggen.... Corona und die Folgen schauen eben nicht auf die Gesinnung, und warum VTs jetzt so böse sind, wo doch mit Däniken, Zillmer und Ko jahrelang ganz öffentlich wissenschaft s Skepsis und Parawissenschaften hifiert und gefördert wurden, christliche und islamistische extreme sich hand in hand gegen zb die Evolutionstheorie stemmmten... Der Feind meines Feindes ist mein Freund...

  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Hungrig denken wir anders als satt.

    Problem ist, dass wir den Hunger nicht kennen.

  • "Erwachsensein darf nicht näher an Gewöhnung liegen als an Veränderung." Mit dem Satz kann man doch mal richtig was anfangen. Wenn da jetzt "Gewohnheit" statt "Gewöhnung" stehen würde, wäre es noch etwas klarer, wird aber ja wohl gemeint sein. Jede verantwortungsvolle Haltung muss aber eben offen sein für Veränderung, auch im Sinne von Selbstkritik. Alte Rezepte sind manchmal noch sehr brauchbar, aber Menschen, die nichts als alte Rezepte im Angebot haben, sind generell unbrauchbar. Menschen, die auf Kosten anderer Menschen Pseudo- Freiheiten für sich selber fordern, sind generell unwillig sich auf Veränderungen einzustellen. Übrigens sind auch Gerichte die ohne näheres Hinsehen sinnentleerte Formen von wichtigen Rechten verteidigen, nicht nur nahe an Faul- und Feigheit, sondern gefährden so die zu verteidigenden Rechte selber mit. Man kann die Hecke auch mal schneiden, nicht jede Wucherung ist gut und nicht jede Demo schützenswert. Überhaupt ist mehr nicht immer gut, noch nicht mal bei der Freiheit und bei Konsummöglichkeiten schon garnicht.

  • 0G
    06792 (Profil gelöscht)

    Ich mag Marmelade. Löst keine Probleme, aber sehr lecker.