Neue Spielzeit am Maxim Gorki Theater: Immer auf die andere Seite wollen
Am Gorki Theater feiert „Berlin Oranienplatz“ von Hakan Savaş Mican Premiere. Das Stück ist eine moderne Interpretation von Alfred Döblins Roman.
Nun beginnt sie also, die erste Theaterspielzeit nach Corona. Wobei nach Corona ja leider immer noch vor und vor allem mit Corona bedeutet. Das wiederum heißt strenge Auflagen vor, hinter und auf der Bühne. Eine Masseneuphorie des Neustarts muss also schon allein aus hygienischen Gründen ausfallen, und die Freude wird begleitet von einer gewissen Melancholie.
Zu dieser Stimmung passt sie immerhin sehr gut, die erste Premiere am Berliner Maxim Gorki Theater in dieser Saison, der aus dem Frühjahr nachgeholte „Berlin Oranienplatz“, in Text und Regie von Hakan Savaş Mican.
Lose angelehnt an Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929, erzählt Micans Neudeutung die Geschichte von Can, einem türkischstämmigen Arbeitersohn aus Kreuzberg, der sich sein eigenes Modelabel mithilfe von gefälschten Designerklamotten finanziert hat und deshalb nun für fünf Jahre ins Gefängnis soll.
Wie Döblins Roman beginnt das Stück vor der JVA Tegel, die als riesiges Videobild auf Proszenium und Hinterbühne projiziert wird. Dazwischen steht Can (Taner Şahintürk) neben seinem Mercedes-Oldtimer in Spielzeugformat am Morgen seines letzten Tages in Freiheit. Doch Can denkt gar nicht daran, ins Gefängnis zu gehen, sondern will stattdessen nach Istanbul verschwinden.
Abschiedstour durch die Vergangenheit
In einer Verschränkung von Film- und Bühnenszenen, unterlegt mit Jazz-Livemusik, begleiten wir Can auf einer wehmütigen Abschiedstour durch eine Vergangenheit, die er tatsächlich schon lange hinter sich gelassen hat, die aber nun schmerzlich zurückkehrt. Da ist etwa Cans Vater (Falilou Seck), der über ähnliche „Import-Export“-Spielchen gestolpert ist und mit dem Can in Zukunft vielleicht wieder mehr zu reden hätte, wo ihm nun das Gleiche passiert ist.
Oder seine fürsorgliche Mutter (Sema Poyraz), die so gern mal wieder mit dem Sohn an den Wannsee fahren würde. Als Can irgendwann von dem wohl einzigen Menschen erzählt, dem er in den vergangenen Jahren nahegestanden zu haben scheint, der Journalistin Lea, die Can verlassen hat, weil ihre Eltern nichts von einem türkischen Arbeiterkind wissen wollten, wird andeutungsweise auch eine politische Dimension greifbar.
„Berlin Oranienplatz“, Text und Regie: Hakan Savaş Mican, Maxim Gorki Theater Berlin, weitere Termine: 13., 29. und 30. September
Die Situation junger Deutscher mit Migrationshintergrund, die auch in der zweiten oder dritten Generation noch immer dazwischen hin- und hergerissen scheinen, ihre Aufstiegshoffnungen nur mit krummen Mitteln verwirklichen zu können oder sich auf ehrliche Weise damit abzufinden, dass sie eben niemals dazugehören werden.
In einer der schönsten Szenen versucht Can, als er am Ku'damm seinen Laden leerräumt, einer Kundin (Anastasia Gubareva) noch schnell zwei Gucci-Kleider anzudrehen.
Schließlich stellen die beiden fest, dass sie in der Kindheit kurzzeitig beide am Schwarzen Meer gelebt haben – er in der Türkei, sie in Georgien – und sich beide auf die je andere Seite sehnten: sie in den „Westen“, den sie sich ganz aus Schokolade erträumte (die aber in der Türkei zu 80 Prozent aus Margarine bestand, wie Can angewidert erklärt), er in das Land der russischen Märchenfilme mit den schönen blonden Kindern.
Desinfizierte Rolex-Uhr
„Warum will man immer auf die andere Seite?“, fragt Can und stellt damit die Frage seines Lebens. Kann denn wenigstens seine ehemalige Freundin Zeynep (Sesede Terziyan), die er einst selbst für den Schein eines besseren Lebens verließ, ihn dazu bewegen, sich der Verantwortung für seine Vergangenheit zu stellen?
Der Entfremdung der Figuren in diesem stilvollen Kreuzberger Neo-Noir entspricht der coronabedingte Abstand der Schauspieler:innen auf der Bühne. Doch immer wieder springen aus der unterdrückten Spannung zwischen Abschied und Zuwendung Funken über, so wie die zuvor sorgfältig desinfizierte Rolex-Uhr, die Can einem Reisebüro-Inhaber (Falilou Seck) zuwirft, um damit sein Flugticket zu bezahlen.
In seiner konsequent schwermütigen Grundstimmung mit zarten Hoffnungsmomenten scheint „Berlin Oranienplatz“ wie gemacht für diesen ambivalenten Spielzeitbeginn. Der große Bruder in Berlin-Mitte wird allerdings – inhaltlich wie ästhetisch – kaum einmal von Ferne sichtbar. Nachdem zuletzt Burhan Qurbani mit seiner fulminanten Verfilmung von Döblins „Jahrhundertroman“ dessen mythischen Kampf des Individuums um Selbstbehauptung kongenial in ein migrantisches Milieu der Gegenwart transportiert hat, backt man am Gorki momentan noch (krisenbedingt?) kleinere Brötchen.
Hoffen wir, dass die beiden folgenden Teile dieser „Stadt-Trilogie“ den Weg aus der Krise heraus etwas deutlicher aufzeigen – oder sich weniger große Vorbilder wählen.
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