Burhan Qurbani über Heimatlosigkeit: „Die beiden verbindet das Trauma“
Regisseur Burhan Qurbani verwandelt „Berlin Alexanderplatz“ in eine postkoloniale Geschichte von strukturellen Machtunterschieden.
taz am wochenende: Herr Qurbani, Ihr Film „Berlin Alexanderplatz“ feierte nur wenige Tage nach dem rechten Anschlag in Hanau seine Premiere auf der Berlinale. Der aufgrund von Corona verschobene Kinostart fällt nun in eine Zeit, in der dank Black Lives Matter wieder vermehrt über Rassismus gesprochen wird. Wie fühlt sich das Timing für Sie an, nachdem Sie ja schon sieben Jahre an dem Film gearbeitet hatten?
Burhan Qurbani: Ich habe so ein blödes Déjà-vu-Gefühl. Weil es bei allen drei Filmen bis jetzt so war: Als sie rauskamen, waren sie plötzlich so zeitig. „Shahada“ ist praktisch mit dem Buch von Sarrazin rausgekommen. In den Wochen der Premiere von „Wir sind jung. Wir sind stark.“ hatten wir 40.000 Leute auf der Straße, weil Legida und Pegida gerade abgingen. Es ist kein angenehmes Déjà-vu. Weil, man will die Filme ja nicht machen, um an eine aktuellen Diskussion anzuschließen. Man will ja eher eine Diskussion starten.
Es ist doch aber ein Gewinn für Sie, wenn sich das Publikum gerade mit Black Lives Matter auseinandersetzt und in Ihrer Filmadaption des deutschen Romanklassikers nun auf einen Schwarzen Franz Biberkopf trifft?
Ich denke, dass mein Film viel, viel genauer angeschaut wird, als es vielleicht vor zwei Monaten noch der Fall gewesen wäre. Die Leute haben sich ja inzwischen – hoffentlich – kritisch befasst mit Migration, mit strukturellem Rassismus, haben sich eingelesen. Sie können den Film auf eine ganz neue Art und Weise auseinandernehmen, die Diskussion kann schärfer werden. Ich setze mich dem aus.
Der Filmregisseur und Drehbuchautor wurde 1980 in Erkelenz geboren. Er studierte Szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sein Abschlussfilm “Shahada“ (2010) lief im Wettbewerb der Berlinale. Qurbanis zweiter Spielfilm “Wir sind jung. Wir sind stark.“ (2015) erzählt vom Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992.
Ihr Protagonist Francis, gespielt von Welket Bungué, ist ein Geflüchteter aus Guinea-Bissau, der in der Berliner Hasenheide mit Drogen dealt. Wie viel von Franz Biberkopf aus Döblins Romanvorlage ist in Francis übrig geblieben?
Viel. Vor allem das Trauma verbindet die beiden. Der eine kommt aus dem Ersten Weltkrieg, der andere Mann ist Schwarz – was in dieser Welt leider auch Traumatisierung bedeutet, zumindest in der westlichen – und heimatlos. Beide sind in Berlin, sind aber nicht wirklich Teil von Berlin. Der weiße Franz Biberkopf gehört zum Abschaum der Gesellschaft. Der Francis aus meinem Film sitzt in einer illegalen Flüchtlingsunterkunft irgendwo am Stadtrand. Sie haben beide diese Hybris, dass sie glauben, sie könnten in die Mitte der Gesellschaft vorrücken. Und beide Figuren schaffen es tatsächlich erst, wenn sie metaphorisch gestorben sind.
Mit der Figur Reinhold steht Francis ein sehr überzeichneter Bösewicht gegenüber. Man hat den ganzen Film über das Gefühl, Francis, der immerzu betont, dass er „gut sein“ will, wird allein durch Reinhold davon abgehalten. Warum war Ihnen dieser größtmögliche Kontrast so wichtig?
Wenn man einen Film macht über einen Schwarzen Hauptdarsteller und einen weißen Antagonisten, erzählt man ein bisschen mehr als nur ein Gangsterdrama. Man erzählt eine postkoloniale Geschichte. Da geht es auch um das Verhältnis von Weiß und Schwarz, von Erster und Dritter Welt, also von strukturellen Machtunterschieden. Und Reinhold steht eben auch für die Verführung der sogenannten Ersten Welt. Vom ersten Moment an lockt er die Männer im Flüchtlingsheim mit dem Versprechen von westlichem Materialismus, mit dem Fernseher, dem Auto, der Wohnung, der Frau – damit sie für ihn arbeiten.
Später im Film übernimmt Francis diese Rolle, um in seiner ehemaligen Unterkunft neue Dealer zu rekrutieren.
Genau, und dafür benutzt er andere Worte, seine eigene Perspektive, um die Männer genauso in sein System reinzulocken. Er wird dann zu Reinholds Vizekönig. Auch das ist eine koloniale Rolle, nach dem Prinzip „divide and conquer“. Der Herrscher pickt sich irgendwen aus dem unterdrückten Volk heraus und macht ihn zum Teil seines Systems, so dass er alle anderen mitnehmen kann.
In diesem Kontext fand ich auch die Perspektive der Nebenfigur Eva sehr interessant: Sie ist Schwarze Deutsche, viel privilegierter als Francis, und hat einen viel kritischeren Blick auf den Rassismus der deutschen Gesellschaft.
Der Monolog, den Eva in einer Bettszene mit Francis hält, ist das Persönlichste, was von mir in diesem Film drin ist. Natürlich bin ich nicht Schwarz, aber als Filmemacher versuche ich ein kollektives Unbewusstes zu treffen, ein Gefühl zu finden dafür, was es heißt, fremd zu sein, an eine Wand zu klopfen und einfach nicht reinzukommen. Und als Person of Color, als Sohn von Geflüchteten ist mein persönliches Trauma in diesem Land, dass ich die Sprache besser spreche als viele Deutsche, die Geschichte und die Gesellschaft und den gesellschaftlichen Kontext mein Leben lang studiert habe, und am Telefon total weiß klinge. Aber dass man über meinen Phänotyp niemals hinwegsehen kann, dass er immer im Vordergrund steht, sobald ich in einer persönlichen Begegnung bin.
In einer Szene ruft Francis einer Gruppe von jubelnden Geflüchteten zu: „Ich bin Deutschland!“ In einer anderen Szene erklärt Berta, eine Transperson, feierlich: „Wir sind die Neuen Deutschen.“ Ich muss sagen, ich hatte gemischte Gefühle an diesen Stellen.
Warum?
Auf der einen Seite schätze ich sie, weil sie den größten Albtraum der AfD spiegeln. Gleichzeitig frage ich mich: Wird hier Nationalismus positiv besetzt?
Ich würde lieber von Patriotismus sprechen. Ich finde es spannend, wie das Wort in Deutschland unendlich übel besetzt ist. Man kann es kaum in den Mund nehmen. Und wenn es in den Mund genommen wird, dann nur von Rechten wie Björn Höcke.
Es gibt gute Gründe, warum Patriotismus in Deutschland verpönt ist.
Klar, aber gleichzeitig ist es ein extrem machtvolles Wort. Du kannst damit unglaublich viel in den Leuten bewegen, im Guten wie im Schlechten. Für mich heißt Patriotismus, sich ehrlich auseinanderzusetzen mit der Geschichte dieses Landes, mit den Schattenseiten und mit dem, was danach passierte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu verteidigen ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Und da darf ich total sagen, ich bin Verfassungspatriot. Ich darf denen das Wort wegnehmen.
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Wozu brauchen Sie dieses Wort?
Ich bin im Kopf noch nicht so weit, dass ich sagen kann: keine Grenzen, keine Nation. Dafür bin ich entweder zu alt oder zu unflexibel. Schließlich lebe ich in einer Welt, in der Grenzen einfach eine Realität sind. Und solange es kein besseres Konzept gibt, muss ich versuchen, an dem Ideal festzuhalten, von dem, was eine Nation sein kann, und das ist für mich eine, die versucht, die Würde des Menschen höher zu stellen als alle anderen Belange.
Aber Sie zeichnen doch mit der Entwicklung von Francis exemplarisch nach, wie Geflüchtete strukturell in die Illegalität gedrängt werden. Dass Artikel 1 eben in der Realität nicht für alle Menschen gilt. Kann es sein, dass Ihr Film radikaler ist als Sie selbst?
Der Film ist Hypothese, ich werde dem Publikum niemals meine Haltung aufdrücken. Es ist okay, wenn der Film radikaler ist als ich. Und natürlich ist das Grundgesetz nicht gelebte Realität. Aber ohne seinen Anspruch sind wir nichts. Deshalb lautet die ultimative Forderung: Ich bin Deutschland, ich bin hier. Ich bin gekommen, um zu bleiben.