Ex-Schulsenator Zöllner im Interview: „Die Schulreform war kein Fehler“
Die Hauptschule war „eine separierende Katastrophe“, sagt Ex-Schulsenator Jürgen Zöllner, der diese Schulform vor 10 Jahren in Berlin abgeschafft hat.
taz: Herr Zöllner, reizt es Sie manchmal, die Stelle als Bildungssenator in Berlin wieder anzutreten?
Jürgen Zöllner: Nein. Wenn Schluss ist, ist Schluss. Deshalb äußere ich mich auch nicht mehr politisch zu aktuellen Angelegenheiten, außer zum Wissenschaftsbetrieb.
Würden Sie nicht manchmal noch gerne …?
Einmal hat’s kurz gezuckt: Unter der aktuellen Koalition auf Bundesebene hätte die große Chance bestanden, eines der zentralen Probleme des deutschen Bildungssystems zu lösen.
Sie meinen den Föderalismus?
Nein! Ich schätze den Föderalismus grundsätzlich. Positive Veränderungen in der Bildungspolitik sind stets von einem Bundesland ausgegangen. Die Ganztagsschule zum Beispiel starteten wir damals in Rheinland-Pfalz. Das Problem ist aber, dass es zwar einen Wettbewerb gibt, aber keine gemeinsame Messlatte, die auch kontrolliert wird. Das hätte man bei der Grundgesetzänderung zur Regelung der Zusammenarbeit von Bund und Ländern nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Bildung anpacken sollen. Man hätte gemeinsame Bildungsstandards und deren Kontrolle vereinbaren können, ohne die Bildungshoheit der Länder aufzuheben. So hätte man beim Vergleich der Ergebnisse dann auch feststellen können, ob man mit dem bayerischen Ansatz besser fährt, mit dem Berliner oder dem hessischen.
Zum Schuljahr 2010/11 hat Berlin die Hauptschulen mit den Realschulen und Gesamtschulen zu Integrierten Sekundarschulen zusammengefasst. Viele von ihnen haben eine eigene Oberstufe. Andere haben sich zusammengeschlossen und bieten eine gemeinsame Oberstufe an. Grundsätzlich sind die Schulen ohne Abitur-Option bei bildungsorientierten Jugendlichen sehr viel weniger nachgefragt, wie auch eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung 2017 befand.
Ohne Abschluss verlassen in Berlin 6 Prozent der Jugendlichen die Schule. In Herkunftsfamilien mit Migrationsgeschichte ist deren Anteil mehr als doppelt so hoch und lag zuletzt bei 13 Prozent. Die Pisa-Studie vom Dezember 2019 bemerkte, dass die Leistungsunterschiede zwischen der Spitze und den Schwächeren größer geworden seien anstatt kleiner. 21 Prozent der SchülerInnen (bundesweiter Schnitt) können nicht richtig lesen, kurz bevor sie die Schule verlassen. (akl)
Berlin hat vor zehn Jahren – Sie waren damals Bildungssenator – mit der Schulstrukturreform versucht, ein integratives Schulsystem zu schaffen, das zu mehr Chancengleichheit, mehr höheren Schulabschlüssen und weniger Abbrüchen führt. Zehn Jahre später wissen wir, dass diese Ziele verfehlt wurden. War das damals alles Murks?
Nein, ich habe damals zwar auch Fehler gemacht. Aber die Schulstrukturreform zählt gewiss nicht dazu. Als ich 2006 nach Berlin kam, war mir schnell klar, dass dieses Schulsystem strukturell Schüler*innen abhängt.
Jürgen Zöllner, studierter Mediziner, war bis 1991 Präsident der Uni Mainz, dann Wissenschaftsminister in Rheinland-Pfalz, 2006 holte ihn Klaus Wowereit als Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung nach Berlin. Heute ist Zöllner Vorstand der Stiftung Charité. Er wird im Juli 75 Jahre alt.
Warum?
Die Hauptschulen mit nur zehn Prozent der Schüler*innen waren eine separierende Katastrophe. Ich habe aber nie geglaubt, dass die Schulstrukturreform allein die Schule in Berlin besser macht. Sie war aber die Voraussetzung dafür, dass man gute Bildungspolitik machen kann. Pisa-Forscher Jürgen Baumert nannte sie das Fundament und eine „Meisterleistung“. In diesem Sinn war die Reform eine der großen Sachen, die in Berlin gelungen sind.
Und wie macht man die?
Der Erfolg von Schule ist abhängig von der Qualität des Unterrichts und der Motivation der Lehrer*innen. Das ist der Kernpunkt, das wissen wir nicht erst seit der Hattie-Studie (wegweisende Studie zu Bedingungen für Lernerfolg von 2009, d. Red.). Schulstruktur allein sorgt nicht für Chancengleichheit. Die Unterrichtsqualität entscheidet, und sie fußt auf guter Lehrerausbildung, wirklicher Professionalität der Lehrkräfte und breiter gesellschaftlicher Wertschätzung ihrer Arbeit.
Die Sekundarschulen ohne Oberstufen sind doch die neuen Hauptschulen.
Das Problem der Sekundarschulen ohne Oberstufe habe ich seinerzeit gesehen und deshalb gesagt, dass diese Schulen verbindliche Vereinbarungen mit berufsbildenden Schulen oder Gymnasien eingehen sollen, um auch eine Oberstufe anbieten zu können. Ich weiß nicht, ob man das mit dem nötigen Nachdruck verfolgt hat. Die Schulstruktur in Berlin ist aber heute kein Thema, über das noch gestritten wird.
Wäre es besser gewesen, der Linken zu folgen und die Gymnasien gleich ganz abzuschaffen? Mit der Option, alle Sekundarschulen mit Oberstufen ausstatten zu können
Auf keinen Fall. Der Erhalt der Gymnasien ist konstitutiv, nicht zuletzt auch für den Schulfrieden, wenn der Elternwille kein Lippenbekenntnis sein soll. Es gibt Eltern, die ihre Kinder erfolgreicher in einer homogeneren Lerngruppe sehen.
Aber es war das Ziel der Strukturreform, diese Homogenität aufzulösen.
Ich halte nichts von Zwangsbeglückung. Ich habe sozialdemokratische Bildungspolitik stets so verstanden, dass es das Wichtigste ist, möglichst alle optimal zu fördern. Die Sekundarschulen bekommen mehr Mittel, um besondere Förderung anzubieten. Ich muss den Lernschwächeren mehr Hilfe zukommen lassen, aber ich werde die Gesellschaft nur voranbringen, wenn diejenigen, die besonders begabt sind, eben auch gefördert und nicht gebremst werden. Und wenn das in einer homogenen Gruppe besser möglich ist, dann muss es diese geben.
Ist es in homogenen Gruppen leichter möglich?
Wir haben kein separierendes Schulsystem, sondern ein Kernangebot: die Grundschule als Primarschule und die Sekundarschule als weiterführende Schule. Und dann gibt es zusätzlich das Gymnasium als zweite Säule, teilweise grundständig (ab Klasse 5 statt ab Klasse 7, d. Red.) und mit Schnellläufern. Dass es auch Sekundarschulen gibt, die Spitzenförderung machen, ist ja kein Widerspruch, das ist doch optimal. Aber auch diese differenzieren intern. Denn Ungleiches gleich zu behandeln ist nicht Gerechtigkeit. Wir würden unsere Nationalmannschaften auch nicht so zusammensetzen, dass sie die Qualifikation unserer gesamten Bevölkerung im sportlichen Können widerspiegeln.
Warum werden dann die Bildungserfolge nicht besser?
Ich habe im Anschluss an die Strukturreform ein Qualitätspaket mit über 30 Punkten erarbeiten lassen und auch begonnen, das umzusetzen. Da ging es etwa um Anerkennungskultur, Transparenz, Unterstützung für Lehrkräfte und Schulen. Ich habe zum Beispiel eine bessere Lehrkräfteausstattung für Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern eingeführt, deren Familien Hartz IV bekommen. Wir sehen aber, dass Schulen unter sehr ähnlichen Voraussetzungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Hier müssen wir die Ursachen transparent machen und den Schulen nachdrücklich helfen, besser zu werden.
Helfen mehr Lehrkräfte?
Manchmal hilft das leider auch nicht. Man muss genau analysieren, was die eine Schule anders macht als die andere. Hat die Schulaufsicht nicht gesehen, dass der Schulleiter nicht führt oder das Kollegium kein Team ist, dass Kollegen*innen nicht wissen wollen, was in der Parallelklasse besser gemacht wird? Jeder und jede von diesen ist verantwortlich.
Der Fachkräftemangel ist eine Scheindebatte?
Die reine Ausstattungsdiskussion ist ein Trugschluss. Es gibt kein Bundesland, das mehr Geld pro Schüler ausgibt als Berlin. Die Ausstattung mancher Schulen in Berlin mit einer schwierigen Schülerschaft liegt bei 200 Prozent: Sie haben doppelt so viele Lehrerstunden, wie sie laut Stundentafel unterrichten müssen. Und trotzdem fällt immens Unterricht aus. Wie kann das sein? Wovon ist man da überfordert? Fehlt es an Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte, an Motivation oder an der Offenheit, sich auch nur mal auszutauschen, warum es bei dem einen besser läuft als bei dem anderen? Schule braucht motivierte pädagogische Profis, die methodisch-didaktisch guten Unterricht geben – weil sie ein echtes Interesse am Schulerfolg der ihnen anvertrauten Kinder haben.
Mittlerweile sind die Schulen froh, wenn sie überhaupt Lehrer bekommen. Auf deren Qualifikation können sie gar nicht mehr schauen.
Das ist sicher ein Problem. Das explosionsartige Bevölkerungswachstum der Stadt hat ja erst so um 2012 begonnen. Trotzdem haben wir vorher schon die Zahl der Referendarstellen spürbar erhöht, weil ich gesehen habe, dass da etwas kommt. Wir haben in den bayerischen Studienseminaren um Absolvent*innen geworben. Jetzt ist der Lehrermangel ein bundesweites Problem, da hilft das auch nicht mehr. Dazu kommt die Frage der Verbeamtung, einer der großen Fehler, die ich gemacht habe.
Inwiefern?
Ich wollte es, und hätte gegenüber dem damaligen Finanzsenator Nußbaum und Klaus Wowereit lauter und öffentlich darauf bestehen müssen, dass wir Lehrkräfte wieder verbeamten. Dass Berlin das nicht tut, erschwert die heutige Situation.
Was sagen Sie zu den Quereinsteigern?
Das ist zumindest berufswissenschaftlich nicht ideal, aber auch eine Chance, denn viele bringen Erfahrungen aus anderen Lebenswelten in die Schule ein. Wir sind heute auf die Quereinsteiger angewiesen. Alle, die sich wirklich anstrengen, müssen das Gefühl haben, dass das auch wertgeschätzt wird. Und die anderen müssen ertragen, dass nach einer Ursache gesucht und dann unterstützt und entwickelt wird.
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