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Entschleunigung in Zeiten der KriseDer Corona-Effekt

Die einen haben zu viel davon, die anderen zu wenig: Die Zeit ist aus den Fugen. Markiert Corona eine Zeitenwende?

Zeitverschiebung: Die Fotografin hat von ihrem Balkon aus die Entschleunigung eingefangen Foto: Anja Weber

Wie sehr die Welt aus den ­Fugen ist, merkt man vielleicht am besten daran, wie gerne und wie ratlos gerade über die Zeit geredet wird. Und über unser Gefühl, genug davon zu haben – oder eben überhaupt kein bisschen. „Corona nervt, aber bringt mir auch total die Entschleunigung“, sagen die einen begeistert. – „Wovon reden die bloß“, fragen sich die anderen, „Entschleunigung, welche Entschleunigung?!“, während sie im systemrelevanten Supermarkt das Klopapier über den Scanner schieben oder im Homeoffice die Kinder auf den Tischen tanzen.

„Zeit, endlich Zeit“, seufzen die einen. – „Keine Zeit, wo ist die Zeit geblieben?“, stöhnen die anderen.

Der Ausnahmezustand namens Corona hat uns aus dem Tritt gebracht, sagen Zeitforscher, die mit ihrem Expertenwissen aus der soziologischen Nische gerade gefragt sind. Aus der Spur gehauen hat Sars-CoV-2 nicht nur unser öffentliches Leben und das Bruttosozialprodukt, sondern jeden Einzelnen, einige mehr, manche weniger.

Es ist dabei gar nicht so entscheidend, sagen die Wissenschaftler, ob wir jetzt objektiv mehr im Stress sind, weil wir plötzlich den Dreisprung aus Homeschooling, Homeoffice und Schlangestehen vorm Supermarkt beherrschen müssen – oder weniger, weil der Terminkalender leerer und im besten Fall der Job sicher ist und das Homeoffice womöglich kinderfrei.

„Entstrukturierung der Zeit“

Entscheidend sei, wie gut oder eben schlecht wir mit diesem „Gefühl der Unordnung“ klarkommen, sagt der Berliner Zeitforscher Dietrich Henckel. Der emeritierte Wirtschaftswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin glaubt, wir erlebten gerade eine „Entstrukturierung der Zeit“.

Denn einerseits wird alles weniger, wir werden freier, der Kalender ist leer gefegt: beinahe keine sozialen Termine mehr. #wirbleibenzuhause (gilt für alle), womöglich weniger zu tun im Job (gilt nicht für alle). Und in Berlin ist das Gefühl wahrscheinlich noch mal krasser als auf dem Dorf jenseits der Stadtgrenze: Für viele Menschen spielt sich das tägliche Leben in der Hausstadt normalerweise an vielen verschiedenen Orten ab – nach der Arbeit noch essen gehen, vielleicht ins Kino und hinterher spontan in die Kneipe. Selbst wenn wir das alles meistens doch nicht so machen: Wir wissen, wir könnten! Jetzt können wir vor allem noch – zu Hause bleiben.

In der Großstadt reduzieren sich die Möglichkeitsräume besonders sicht- und spürbar, zugleich sind wir es vielleicht am wenigsten gewohnt, unsere Freizeitgestaltung nicht mehr anderen zu überlassen: „In der Stadt gibt es mehr Institutionen, an die wir vorher unsere Zeitorganisation delegiert haben. Da diese Entlastung nun wegfällt, sehen wir uns gezwungen, sie selbst zu leisten – was vielen schwerfällt“, sagt auch der Münchener Zeitforscher und Soziologe Karlheinz Geißler.

Trotz leerer Kalender und trotz weniger sozialer Verpflichtungen wird aber auch irgendwie alles mehr: 30 zusätzliche Mails am Tag sollen kompensieren, dass wir den KollegInnen manches nicht mehr einfach über den Schreibtisch zurufen können. Weil wir nicht mehr zu den Großeltern fahren können, gibt es jetzt feste Wochentermine für die Video­telefonie – so viel „Kontakt“ hatte man vor Corona nicht. Die WhatsApp-Gruppe explodiert, die Voice­mail läuft über – so viel, scheint es, hatte man sich schon lange nicht mehr zu sagen.

Aber auch eine Chance

Und es wird alles „gleichzeitiger“: Erwerbsarbeit und Familie sind für die meisten Menschen zwei räumlich und zeitlich getrennte Bereiche. Das ist in Unordnung geraten – und niemand anderes als man selbst muss das jetzt neu sortieren. Was gar nicht so leicht sei, sagt Zeitforscher Henckel, wenn man einerseits plötzlich „einen Sack voll Zeit vor die Füße gestellt“ bekomme und da jetzt andererseits höchstselbst sinnvoll Platz schaffen müsse für Kollegenmails und dafür, dem Kind Mathe zu erklären, für die Waschmaschine und die jetzt nicht mehr durch die ­Kantinenzeiten vorgegebene Mittagspause.

Leicht ist das alles nicht, aber auch eine Chance, sagt indes Geißler: Man könne dadurch lernen, rhythmischer zu leben, mehr auf den Körper zu hören, weil man weniger fremdbestimmt sei von Terminen und Uhrzeiten, „die die eigenen Befindlichkeiten ja nicht berücksichtigen“. Wobei man sich unweigerlich denkt: Nach drei Zoom-Konferenzen hinter mir und zwei Deadlines vor mir ist meine Befindlichkeit vor allem – eine schöne Theorie.

Unserem Zeitgefühl bekommt dieser Schleudergang aus weniger Ablenkung bei mehr Selbstverantwortung jedenfalls nicht. Deshalb scheinen sich die Wochen zu dehnen, auch wenn man gar nicht mal in Coronaquarantäne festsitzt, sondern vielleicht nur in der selbst gewählten Isolation zu Hause die Bücher nach Alphabet sortiert. Deshalb scheint die Zeit zugleich zu rasen: Wo sind eigentlich die letzten fünf Wochen seit den Schul­schließungen in ­Berlin geblieben?

Ist Corona also auch eine Zeitenwende?

Zeit für Fragen – und Konsequenzen

Die Wissenschaftler sind sich da in etwa so uneins wie die Republik gerade übers Home­office. Zeitexperte Geißler sieht schon eine Abkehr von der Uhrzeit, weil die Menschen wieder mehr lernten, frei über ihre Zeit zu entscheiden.

Quatsch, kontert der Kollege Henckel aus Berlin. Natürlich würden wir ruckzuck unser altes Leben und Arbeiten wieder aufnehmen. Da mag er recht haben: Wir betrachten die Coronakrise als Ausnahmesituation – das Normale und das Vorher werden nicht wirklich infrage gestellt.

So viel hatte man sich schon lange nicht mehr zu sagen

Die Klimabewegung, nur ein Beispiel, ist leise: Man organisiert sich protesttechnisch im Digitalen. Das bringt ein bisschen Aufmerksamkeit. Man kann aber nicht sagen, dass das irgendeine besondere Dynamik entwickelte. Und offenbar ist die Politik auch nicht bestrebt, den Nebeneffekt der Corona­krise – sinkende CO2-Emissionen zum Beispiel – in Maßnahmen zu übersetzten, die den Effekt von Corona nachhaltig machen könnten. Zugleich, ein anderes Beispiel und eine Nummer kleiner, schafft Berlin in einigen Bezirken jetzt „pandemieresiliente“, also besonders breite Radstreifen, die auch nach Corona Bestand haben könnten. Corona verändere die Gesellschaft nicht automatisch nachhaltig, sagt Soziologe Geißler.

Aber wir hätten jetzt Zeit, Lockerungen hin oder her, die richtigen Fragen zu stellen. Und Konsequenzen zu ziehen. Anna Klöpper

In Berlin sieht man mehr Spaziergänger. Und die Menschen halten Abstand zueinander Foto: Anja Weber

Süße Muße

Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze: Über die positiven Seiten der Entschleunigung

Ich habe keine Eile. Ich habe Zeit. Wie oft habe ich diesen Satz in den vergangenen Tagen und Wochen gesagt, gedacht? Und jedes Mal löst er so ein kleines, warmes Glücksgefühl aus und pflanzt mir ein Lächeln ins Gesicht: Zeit! So viel Zeit. Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze. Was für ein Luxus!

Natürlich: Was mir diesen unerwarteten Luxus erlaubt, ist kein Grund zur Freude. Es ist eine tödliche Epidemie, und es sind die Maßnahmen, die diese eindämmen sollen: „Social Distancing“, Kontaktverbote also, noch immer geschlossene Geschäfte (ab Ende nächster Woche soll das anders werden), geschlossene Gastronomie, Kinos, Theater und so weiter. Eine in vieler Hinsicht existenzielle Bedrohung für sehr viele Menschen: physisch vor allem, aber auch psychisch, ökonomisch.

Und natürlich bin ich in vielerlei Hinsicht privilegiert: Als Journalistin arbeite ich trotz beziehungsweise wegen Corona weiter. Ich habe keine Einkommenseinbußen. Ich kann meine Wohnung weiterhin bezahlen. Ich verfüge über die Technik, um trotz Kontaktsperren Kontakt zu meinem Umfeld, zu Informationen zu halten. Ich bin nicht auf die Hilfe anderer angewiesen: Ich kann anderen helfen. Auch das ist Luxus.

Was mir das Virus nimmt: Termine, Verpflichtungen. Stress und Eile. Der Arzttermin vor der Arbeit, der Friseurbesuch danach. Der Sportkurs, das Konzert, Kino mit Freunden – wann schaffe ich den Einkauf? Milch ist alle! Druckerpatronen auch! Und am Wochenende kommen Freunde, da muss vorher doch noch geputzt werden … Und diese Ausstellung! Die schließt doch am Sonntag!

Nur schnell, schnell!

Hin und her also in überfüllten Bussen und Bahnen oder auf verstopften Straßen und Fahrradwegen durch eine Stadt, in der sich auf den Treppen zur U-Bahn Menschen Schulter an Schulter drängeln, mit Fahrrad oder E-Roller auf Gehwegen durch Fußgängermassen schlängeln, vor den Umkleiden und Kassen der Shopping Malls ebenso wie vor Clubs und Museen lange Schlange stehen. An der Kasse im Supermarkt wird zur Eile gedrängt, das Gekaufte im Laufschritt nach Hause gebracht. Nur schnell, schnell! Es muss noch so viel getan, es darf so vieles nicht verpasst werden!

Doch nun wird nicht mehr gemusst. Auch zu verpassen gibt’s nichts mehr. Termine, Verpflichtungen, Verabredungen werden abgesagt. Die meisten Menschen bleiben meist bei sich zu Hause. Sind sie draußen, bleibt genug Platz, die Distanz, die jetzt Vorschrift ist, zu wahren. Man gibt den anderen Raum, kein Gedrängel mehr, keine Hetze. Schlendern statt rennen: eine entspannende Art der Fortbewegung. Die Zeit draußen will genossen, der einkehrende Frühling kann gewürdigt werden.

Wer jetzt einkaufen geht, weiß, dass das Zeit braucht, Zeit kostet: Zeit hat einen Wert! Bisher wie nebensächlich schnell und in Eile Erledigtes bekommt so eine neue und nachdenkenswerte Dimension: Was habe ich mir bisher bloß alles in einen Tag gepackt? Musste das wirklich so sein?

Jetzt heißt es: Geduld üben. Sich für das, was zu tun ist, Zeit nehmen. Es mit und in Ruhe, mit Muße tun. Muße – ein fast vergessenes Wort und ein fast vergessener Zustand. „Freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“, erklärt der Duden.Entsprach denn das, was mich bisher so getrieben hat, nicht meinen Interessen?

Sportkurs, Kino, Ausstellung …

Doch! Es muss ja jetzt auch auf viel Schönes und Wichtiges und Richtiges verzichtet werden: das Angrillen im Garten der Freunde. Der Abend in der Bar. Die Eröffnung des Strandbads Wannsee. Die Nachhilfe mit den Kindern im Jugendheim. Das Picknick auf dem Tempelhofer Feld. Frühjahrsklamotten shoppen mit der Freundin! Der Osterurlaub bei den Eltern oder an der See. Der Sportkurs, das Kino, die Ausstellung …

Wow, denke ich, während ich das aufschreibe: Was für Möglichkeiten ich hatte und irgendwann wieder haben werde, welche Angebote ich nutzen kann in dieser Stadt! Luxus! Was aber in all den Angeboten, die genutzt werden wollen, verschwindet: freie Zeit, ohne Action, ohne Eile, ohne Interaktion und Kommunikation, ohne etwas, das noch schnell erledigt werden muss. Muße.

„Die freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“: Muße ist demnach die Voraussetzung dafür, das zu tun, was einem schön, wichtig und richtig ist, Freude macht, nützt. Wenn es eben nicht in besinnungsloser Hetze, sondern besonnen, bewusst, in Ruhe geschieht; wenn man sich Zeit dafür nimmt, dem Zeit widmet, was im eigenen Interesse liegt. (Auch Nichtstun kann den eigenen Interessen entsprechen, Einkaufen sowieso).

Meine Lehre aus der Krise: Zeit ist nicht knapp. Vermutlich gibt es sogar endlos viel davon. Es ist bloß nicht klar, wie viel davon jeder Einzelne bekommt. Deshalb ist sie wertvoll, deshalb, nehme ich an, denken wir stets, wir müssten sie gut nutzen. Doch Zeit dehnt sich nicht aus, wenn man sie vollstopft. Im Gegenteil: Sie wird dadurch knapp. Vielleicht ist es besser, zu fragen: Was hat meine wertvolle Zeit verdient, was ist mir meine Zeit wert? Alke Wierth

Soziologische Annahme: Die beiden hier dürften sich gut kennen und wohl auch zusammenleben Foto: Anja Weber

Welt ohne Feierabend

Keine Einteilung mehr. Kein Ausschalter: Über die negativen Seitender (vermeintlichen) Entschleunigung

Ich arbeite aus gutem Grund in einer Festanstellung mit festen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, relativ klar Arbeit und Leben zu trennen. Als vor zehn Jahren die Sache mit der Familiengründung begann, wollte ich das so. Mein Leben als freie Kreative erschien mir unter den neuen Bedingungen plötzlich als völlig absurd. Viele Wochen meines Lebens hatte ich bis dahin 12 Stunden am Tag im Büro gesessen, manchmal sieben Tage die Woche. Ich hatte mir nie Urlaube ohne Arbeitsauftrag geleistet. Für mich war alles Arbeit, ich hielt Erholung für eine Erfindung der Freizeitindustrie, und mir fehlte nichts.

Heute, wo ich dank Coronakrise seit Wochen isoliert mit der Familie in der Vorstadt hocke, 40 S-Bahn-Minuten von Mitte entfernt, fühle ich mich absurderweise oft an die wildere Zeit vor den Kindern erinnert. Ich kommuniziere nur noch über Handy und Computer mit Erwachsenen, was sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als sonst, wo einfach mal was auf Zuruf geklärt werden kann. Während meiner Arbeitszeit betreue ich oft die Kinder, weil mein Partner zwar auch zu Hause ist, aber wie ich arbeiten soll.

Während ich versuche, für diese Zeitung ein Interview mit einer Buchhändlerin vorzubereiten etc., muss ich meiner Tochter erklären, wie man adverbiale Bestimmungen vom Akkusativobjekt unterscheidet, sie daran erinnern, wie man schriftlich dividiert, muss meinem Sohn ein Pflaster auf die neue Schürfwunde kleben, eine Info suchen, von der ich nicht mehr weiß, ob sie auf WhatsApp, Signal oder WeChat kam, die Waschmaschine anschmeißen, die Post für die Nachbarn annehmen …

Ich checke auch an meinen freien Tagen und am Wochenende zu häufig News, und anstatt mal wieder ein langes Buch zu lesen, sehe ich viel zu oft nach meinen Mails und studiere Analysen zur Lage in den griechischen Flüchtlingslagern.

Eckpfeiler fehlen: die echten Termine

Trotz einer Art Stundenplan, die wir uns gleich am Anfang der Kontaktsperre gebastelt haben und der den Tag in Essens-, Arbeits- und Plauderzeiten mit Freunden, Medienkonsum und stille Pausen unterteilt, fehlen uns die Eckpfeiler, die echten Termine.

Meine Zeit vergeht nicht langsamer, im Gegenteil. Je weniger ich am Tag schaffe, desto schneller scheint er mir im Rückblick vergangen zu sein. Ich muss mich stark konzentrieren, wenn ich gefragt werde, seit wie vielen Wochen ich nun schon so lebe.

Social Distancing gilt auch für Hunde, oder!? Foto: Anja Weber

Mein Leben kommt mir neuerdings eher breiförmig vor. Ich empfinde keine Entschleunigung, sondern Stress, und weiß doch, wie es jenen geht, die noch ganz andere Sorgen haben, zum Beispiel Existenzangst.

Für mich ist wie vor zehn Jahren plötzlich wieder alles Arbeit, sie lässt sich einfach nicht mehr ausschalten. Der Unterschied ist: Obwohl ich nach wie vor in meinem Traumberuf arbeite, im Grunde seit einem Vierteljahrhundert ein und dasselbe mache und es immer noch spannend finde, bin ich derzeit oft unglücklich damit. Das ist nicht nur wegen meines fortgeschrittenen Alters und meiner abnehmenden Belastbarkeit so.

Die Arbeitswelt – ein Tugendterror

Am Anfang meines Berufslebens dachte ich oft, dass es das Wichtigste sei, einen Job zu finden, der einen ganz erfüllt – und dass man dann gut und gern auf den Rest verzichten kann. Inzwischen habe ich viel darüber gelesen, geschrieben und geredet, wann und warum dieser alte Traum vom selbstbestimmten Leben eigentlich entstanden ist. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie schön funktional diese Idee in unserer Arbeitswelt der Deregulierung, Flexibilisierung und Virtualisierung heute funktioniert. Ich habe den in Freiburg lehrenden Soziologen Ulrich Bröckling gelesen, der ein plastisches Bild vom ewig kreativen, ebenso wendigen wie biegsamen Künstler-Unternehmer entworfen hat, der sich völlig hektisch permanent neu erfindet. Im Grunde verbirgt sich hinter der von Routinen befreiten, eigenverantwortlichen Arbeitswelt ein Tugendterror, der nie härter war.

Sehr schön geschildert hat auch der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz, wie ausgerechnet die 1968er, die den Menschen eigentlich aus dem Korsett der lebenslangen Pflichterfüllung befreien wollten, den Grundstein für diese Tyrannei der ständigen Selbstverwirklichung legten.

Im Homeoffice funktioniert die Trennung von Arbeit und Leben viel zu selten

Früher bekamen die Menschen oft künstliche Gelenke, weil sie den größten Teil ihres Lebens zu schwer geschleppt hatten. Heute machen sie eher Yogawochenenden oder Coaching-Seminare, um einem Burnout vorzubeugen. Es gibt inzwischen Ärzte, die ihren gestressten Patienten verschreiben, das Handy nach 18 Uhr auszuschalten, und jeden Abend eigenhändig in den sozialen Medien nachsehen, ob sie dies denn auch einhalten. Sie schalten einfach nie mehr ab, weder im wörtlichen noch im übertragenden Sinn. So wie ich jetzt, im Homeoffice, wo die Trennung von Arbeit und Leben in meinem Fall viel zu selten funktioniert.

Ich sehne mich danach, endlich wieder nach dem Aufstehen ins Büro zu dürfen, und um 18 Uhr mit dem schönen Gefühl, meine Arbeit getan zu haben, den Computer runterzufahren, ins Kino oder in die Kneipe zu dürfen, die Kinder irgendwo hinzufahren, die Bücher zu sortieren, oder irgendetwas anderes völlig Unverwertbares und Sinnloses tun dürften, wozu ich derzeit viel zu wenig Muße habe. Ich wäre sehr froh, wenn meine Zeit auf diese Weise wieder langsamer verstreichen würde. Susanne Messmer

Die drei Texte stammen aus der Printausgabe der taz berlin am wochenende vom 18./19. April 2020.

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1 Kommentar

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  • Die Zeiten, in denen 24 Stunden am Tag in den Haushalten das TV läuft, werden nach Überwindung von Corona gottlob vorbei sein. Ja, das ist eine Chance für die Kultureinrichtungen, wenn sie adäquat genuzt wird ... So sollten sich Theater, Museen etc. schonmal auf die post-coronale Zeit einstellen, in denen etwa neue Werte wie Miteinander, Solidarität, Zusammenhalt groß geschrieben werden könnten. Frei nach dem Motto: An Krisen wachsen, sich entwickeln ...