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Risiken für Umwelt unterbewertetEU-Pestizidprüfer wollen Reform

Bei der Zulassung würden Risiken für die Umwelt unterschätzt, kritisieren Behördenberater. Sie verlangen, auch Pestizid-Kombinationen zu untersuchen.

Wieviel Gift kommt auf den Acker? Ein Gerstenfeld in Rheinland-Pfalz Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Berlin taz | Mehrere Wissenschaftler der EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) fordern, die Prüfung von Umweltrisiken durch Pflanzenschutzmittel zu reformieren. „Die Bewertung von Pestiziden berücksichtigt viele Belastungsfaktoren nicht, die in den vergangenen Jahren stärker geworden sind – wie der Klimawandel, Zerstörung von Lebensräumen und die zunehmende Gleichförmigkeit der Landschaft“, schreiben Christopher John Topping und zwei weitere Experten in einem Beitrag für die renommierte Fachzeitschrift Science. Die Kombination dieser Faktoren könne die Effekte von Ackergiften verschärfen. Deshalb müsse die EU die Chemikalien „ganzheitlicher“ beurteilen.

Konventionelle Landwirte spritzen Pflanzenschutzmittel, um mehr zu ernten und Arbeit etwa für mechanische Unkrautbekämpfung einzusparen. „Pestizide sind jedoch in Verbindung gebracht worden mit dem Rückgang von Insekten, Vögeln und der Artenvielfalt in Gewässern“, zitieren die Wissenschaftler mehrere Studien. Wenn die Chemikalien dafür auch nur teilweise verantwortlich sind, werfe das Fragen zum Zulassungsverfahren auf, das die Umwelt schützen müsse. Die Regeln seien hinter dem Stand der Forschung und Forderungen der Gesellschaft nach einer nachhaltigen Lebensmittel-Produktion zurückgeblieben.

Für veraltet halten die Autoren vor allem, dass die Behörden die Umweltfolgen für jedes Pestizid einzeln betrachten. Dabei sei es normal, dass in einer Region mehrere Mittel gleichzeitig oder hintereinander gespritzt werden. Derzeit ignorierten die Behörden auch, auf wie viel Fläche ein Pestizid angewendet wird. Sie würden die langfristigen Risiken etwa für diejenigen Insekten unterschätzen, die das Mittel nicht töten soll („Nicht-Ziel-Organismen“). Denn bei den Berechnungen nähmen die Ämter an, dass die Tiere in größere Gebiete als realistisch ausweichen könnten. Arten mit einer großen Reichweite, zum Beispiel Bienen, „sind einem Pestizid-Cocktail ausgesetzt, der sogar noch vielfältiger ist als der, der auf einem einzelnen Feld eingesetzt wird“, heißt es in dem Artikel.

Die Experten kritisieren außerdem, dass die Behörden die Auswirkungen auf nur wenige Arten untersuchten. „Im Lauf der Zeit ist offensichtlich geworden, dass bestimmte Aspekte übersehen wurden oder einfach unbekannt waren“, so die Wissenschaftler.

Experten wollen Auftrag der EU

Sie empfehlen deshalb, die Effekte von Pestiziden mithilfe von Modellen in ganzen Landschaften zu analysieren. Pestizide sollten nicht mehr einzeln, sondern gruppenweise betrachtet werden. Zuerst müssten so die Wirkungen auf Gliederfüßer und Bienen untersucht werden, bei denen es besonders dringend sei. „Das kann einigermaßen schnell im Rahmen des geltenden Rechtsrahmens geschehen, wenn ein Mandat der EU-Kommission oder des -Parlaments kommt“, so die Autoren.

Die drei Wissenschaftler sind Mitglieder des Efsa-Gremiums für Pflanzenschutzmittel und ihre Rückstände. Diese Kommission prüft für die EU die Risiken von Pestiziden und schlägt zum Beispiel Grenzwerte vor.

Der Verband der europäischen Pestizidhersteller Ecpa zeigte sich auf taz-Anfrage offen dafür, Landschaftsmodelle bei der Prüfung der Chemikalien zu nutzen.

Kritik von Umweltschützern

Die Umweltorganisation Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) kritisierte, es würde viele Jahre dauern, so ein System zu entwickeln. „Angesichts des derzeitigen Zusammenbruchs der Artenvielfalt haben wir nicht die Zeit, etwas völlig Neues zu entwerfen“, sagte Hans Muilerman, Chemie-Koordinator des Verbands mit Sitz in Brüssel. „Unsere Lösung ist, das derzeitige System zu aktualisieren und empfindliche Arten zu testen“. Die Mittel müssten unter realistischen Bedingungen in kontaminierten Agrar-Landschaften getestet werden.

Toppings antwortete darauf, dass der PAN-Vorschlag nur weniger Pestizidzulassungen zur Folge haben werde. „Das ignoriert, dass die Landwirtschaft Alternativen braucht, die nicht vorankommen“, schrieb der Däne der taz. Wenn weniger Pestizidarten zur Verfügung stehen, steige die Gefahr, dass zum Beispiel Unkräuter resistent werden.

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1 Kommentar

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  • Auch die Forderung von PAN würde kurzfristig nichts ändern sondern braucht Zeit. Stattdessen könnten Biologen, die sich seit Jahren mit diesen Aspekten beschäftigen, sehr schnell "Angebote" für konventionelle Kollegen ausarbeiten, die schon in einem Jahr umsetzbar wären. Das könnten z. B. x% ungespritzte Flächen, x% blühende Kulturen oder x% erweiterte Landschaftsstrukturen sein. Das Wissen ist längst da.



    Ich meine in BaWü hat es so ein Punktesystem schon gegeben, vielleicht auch in anderen Bundesländern.



    An die Umsetzung dieser Vorgaben müssten ALLE (erste und zweite Säule) Flächenprämien gebunden werden, wobei den Landwirten eine bestimmte Auswahl gelassen werden kann.

    Daneben kann dann im Sinne der erwähnten Pestizidprüfer geforscht und modelliert werden. Aber PAN hat natürlich recht wenn es auf die Gefahr verweist, dass dann vielleicht erst in 5 Jahren belastbare Daten auf dem Tisch sind.