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Theaterstück über den Fall Niels HögelIm Tiefsten erschüttert

Das umstrittene Theaterstück „Überleben“ ist eine außerordentlich kluge Aufarbeitung der Patient*innenmorde in Delmenhorst und Oldenburg.

Bestechend klar arrangierte Texte: Szene aus dem Stück „Überleben“ Foto: Stephan Walzl

Oldenburg taz | Theater ist ein Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Das mag über die „Ahs“ und „Ohs“ opulenter Inszenierungen irgendwelcher Klassiker mitunter in Vergessenheit geraten.

Dermaßen handgreiflich wie am vergangenen Wochenende in Oldenburg geraten solche Interventionen allerdings nur höchst selten. Gestritten hatte man in der Stadt schon lange vor dieser Premiere, eigentlich schon seit die Göttinger Werkgruppe2 auch nur angekündigt hatte, mit „Überleben“ ein Stück über die massenhaften Patient*innenmorde an den Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg auf die Bühne des Staatstheaters zu bringen. Pie­tätlosigkeit hatte man ihnen vorgeworfen, Ausverkauf und unangemessene Eile: so kurz, bevor der große Prozess gegen den Serienmörder und ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel im vorvergangenen Herbst begonnen hatte.

Entsprechend hoch ist die Anspannung am Premierenabend vor und auf der Bühne. Immer wieder wird geschluchzt, an Stellen mitunter, die gar nicht sonderlich drastisch scheinen, sondern eher auf persönliche Erfahrungen schließen lassen. Noch beim zweiten Gong diskutieren manche, ob sie nicht doch wieder gehen sollten – vereinzelt tun sie’s.

Was auf der Bühne geschieht, ist leicht zu beschreiben, in seiner Wirkung aber nur schwer zu erfassen. Julia Roesler inszeniert wortwörtliche Gespräche mit größtenteils anonymisierten Zeug*innen: Angehörige, Mitarbeiter*innen der Krankenhäuser, eine der Überlebenden. Die war nach einem Unfall von „ihm“, wie der Täter hier meist nur genannt wird, in Lebensgefahr versetzt und mit Erfolg wiederbelebt worden.

Immer wieder wird geschluchzt, an Stellen, die gar nicht sonderlich drastisch scheinen

Und das ist für die Frage, um die es den Theatermacher*innen hier geht, ein zentraler Fall. Weil der Täter sie nämlich wiederbelebt habe, heißt es im Text des Opfers, sei man juristisch in diesem Fall vom Vorwurf des versuchten Mordes zurückgetreten und spreche nur mehr von gefährlicher Körperverletzung – „und das is’ leider verjährt“. Wiedergutmachung erfährt sie darum nicht: keinen Schadensersatz, keine Entschuldigung, keine Anerkennung ihres Leidens. Und das ist massiv.

Seit die Frau Jahre nach der Tat durch die Polizei erfährt, dass jemand versucht hatte, sie zu ermorden, leidet sie unter nächtlichen Panikattacken, Depressionen, Angst vor Rettungswagen – und eben dem Gefühl, dass sich niemand dafür interessiert. Von solchen Fällen ist nach wie vor wenig zu hören. Eindringlich lässt Ksch. Thomas Lichtenstein einen anderen Zeugen sprechen, der am Telefon von der „Soko Kardio“ vom Mordverdacht erfährt, dann eine Entwarnung erhält und noch später auf Nachfrage erfahren muss, dass es wohl doch Mord war.

Um die Dimensionen jenseits der juristischen Aufarbeitung geht es also. Was ist mit den Angehörigen? Wie lässt sich der Morde gedenken, wenn nicht mal annähernd klar ist, wie viele es gab? Und das ist vielleicht am wichtigsten: Warum ist außerhalb des Prozesses nichts passiert? Kein Gedenkgottesdienst, keine Trauerfeier, keine offizielle Einladung an die Betroffenen.

Stattdessen bleiben aus Sicht der Angehörigen eine Klinik, die aus Korpsgeist und Angst um den Ruf systematisch geschwiegen habe, und eine Staatsanwaltschaft in Oldenburg, die viel zu lange keinen Finger gerührt habe, als die Fälle aus Delmenhorst längst auf dem Tisch lagen.

Ein Angehöriger vermutet: Wer in der Justiz Karriere machen möchte, der legt sich nicht mit Unternehmen an, in die das Land Niedersachsen so stark involviert ist. „Es sei denn, man möchte seine Karriere beenden.“

Schon um diese Stimmen der Übergangenen mit allen „Ähs“ und „Hmms“ zu hören, lohnt sich der Gang ins Theater – auch für die Wütenden und jene, die selbst keine Ahnung haben, wie damit jetzt umzugehen sei. „Vielleicht“, heißt es einmal im Stück, „ist es ja sogar die Aufgabe des Theaters, solche Prozesse zuzuspitzen.“ Es bleibt nur die Frage nach dem Wie, und die verhandelt die Werkgruppe2 mit entwaffnender Offenheit.

Theaterstück „Überleben“

nächste Aufführungen: Do, 5. 3., 20 Uhr, Oldenburg, Staatstheater; weitere Termine: 13. und 21. 3.

Gleich zu Beginn suchen die Schauspieler*innen vor der Bühne das Gespräch mit dem Publikum: „Wann haben Sie zum ersten Mal von einem Fall gehört?“ Aus der Presse? Waren sie beim Prozess? Was heißt eigentlich erinnern und wie geht das? Auch später im Stück wird direkt mit den Zuschauer*innen diskutiert, nach Ideen für eine Gedenkstätte gefragt und nach Einwänden.

Die Antworten kommen: den Täter zu entmenschlichen, verstelle gerade den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, sagt etwa ein Zuschauer. Ksch. Thomas Lichtenstein und Caroline Nagel fragen von der Bühne nach, diskutieren und widersprechen auch. Als Menschen, wohlbemerkt, nicht in ihren Rollen, sondern als langjährige Ensemblemitglieder und damit eben auch Teil der oldenburgischen Stadtgesellschaft.

Einmal verschwinden sie alle miteinander im Inneren des Bühnenaufbaus und diskutieren hinter verschlossener Tür. Es dringen nur Satzfetzen nach draußen: dass die Intention des Stücks „völlig falsch suggeriert wurde in der Öffentlichkeit“, oder die Verwunderung darüber, „wie vehement sich da einige Personen geäußert haben, die gar nicht direkt betroffen sind“. Und dass man einkalkulieren müsse, dafür „auf die Glocke zu kriegen“. Und noch während dieser Selbstbeschau von oben, beginnen auch im Publikum Einzelne leise miteinander zu streiten. Aufregend ist das – und wohl mehr, als politisches Theater auch nur hoffen darf.

Großes Fingerspitzengefühl

Und Theater ist es – das darf man bei aller Authentizität von Text und Wiedergabe nicht vergessen. Die Texte sind arrangiert, folgen einer bestechend klaren Linie vom öffentlichen Diskurs über verschiedene Einzelpositionen zur Selbstreflexion und weiter zu Ansätzen einer Strategie des weiteren Umgangs. Bis hin zum nächsten Einzelfall, der genau dort wieder neue Schwierigkeiten aufzeigt.

Mit außerordentlichem Fingerspitzengefühl lassen die Schauspieler*innen ihre Rollen zittern, verzweifeln und lachen. Im Zentrum der von Charlotte Pistorius gestalteten Bühne steht ein drehbarer zweistöckiger Turm: ein Treppenhaus ins Nirgendwo, das hier und da Einblicke gewährt, umso mehr aber den Blick verstellt auf Abläufe im Inneren. Klug ist das, wie alles hier, aber unaufdringlich – ohne dramaturgische Schaumschlägerei. Ein Stück wie „Überleben“ ist eine Ensembleleistung oder es scheitert zwangsläufig.

Dass der fast zweistündige Balanceakt bei enormer Fallhöhe nicht ein einziges Mal auch nur ins Straucheln kommt, ist eine Sensation. Auch wenn einem das Wort hier schwer über die Finger geht. Man ist hier nicht gerne begeistert, und ja, es tut auch weh, wie treffsicher das Theater die Bälle zurück in die Öffentlichkeit spielt, die sich zuvor echauffiert hatte. Denn es geht ja wirklich – wie einer im Text sagt – um das, „was die Gesellschaft im Tiefsten erschüttern muss.“

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