Aris Fioretos' Roman „Nelly B.s Herz“: Berauschende Aufwinde
„Nelly B.s Herz“ heißt der neue Roman des schwedischen Autor Aris Fioretos. Er erzählt die Lebensgeschichte der Berliner Flugpionierin Melli Beese.
Kaum ein literarisches Konzept scheint derzeit erfolgreicher zu sein als das historisch-biografische Erzählen, vor allem wenn im Mittelpunkt die Lebensgeschichte einer erfolgreichen Frau, einer vergessenen Heldin der Zeitgeschichte steht.
Interessant ist dabei, dass die Form dieser Geschichten größtenteils ziemlich bieder gestaltet ist und damit im Gegensatz zur wilden Vita der Rebellinnen steht. Umso erfreulicher, wenn biografische Literatur gelingt, und dann noch auf so überzeugend hohem Niveau wie im Roman „Nelly B.s Herz“ des schwedischen Schriftstellers Aris Fioretos.
Geboren 1960 in Göteborg, und zwar als Sohn einer Österreicherin und eines Griechen, studierte Fioretos Literaturwissenschaften in Stockholm, Paris und an der renommierten Yale University, und tatsächlich ist seinen Texten immer eine erstaunliche Weltläufigkeit anzumerken.
Auch im aktuellen Werk schafft es der Autor, Grenzen zu überwinden, indem er beispielsweise aus der dürftigen Quellenlage eine Überfülle des literarischen Empfindens entwickelt und damit neue, nämlich fiktive Charaktere schafft, die trotz der historischen Distanz lebendig und glaubhaft wirken.
Aris Fioretos: „Nelly B.s Herz“. Roman aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, München 2020, 333 Seiten, 24 Euro
Als Vorlage für „Nelly B.s Herz“ dient die Geschichte der Berliner Flugpionierin Melli Beese, die 1886 in einem Vorort von Dresden geboren wurde, die erst Bildhauerei in Stockholm studierte und die an ihrem 25. Geburtstag als erste Frau in Deutschland eine Fluglizenz erwarb.
Flugschule in Berlin-Johannisthal
Mit ihrem französischen Mann eröffnete Melli Beese eine Flugschule in Berlin-Johannisthal, die sehr erfolgreich war, während des Ersten Weltkriegs aber geschlossen wurde. „Wenig ist bekannt, was nach dem Krieg geschah“, schreibt Fioretos im Nachwort zu seinem Roman, den er eine „literarische Fantasie“ nennt. Tatsächlich ist dieser Text fantastisch im besten Sinne.
Schon die Entscheidung für eine reine Rollenprosa ist mutig, denn Fioretos schlüpft über die Ich-Erzählung nicht nur in eine Frauenfigur aus einer anderen Epoche, er entwickelt zudem ein Geflecht von unterschiedlichen Motivsträngen, die einige Erzählrisiken, nämlich großes Kitschpotential, bergen: Zum Auftakt des Romans wird der Heldin eröffnet, dass sie unter einer Verdickung der Herzwände leide und dass die Krankheit lebensbedrohlich sein könne, wenn sie weiterhin in dünneren Luftschichten unterwegs sei.
Für Nelly ist es kaum vorstellbar, auf das Fliegen zu verzichten, nachdem sie nicht nur massive Vorurteile überwunden, sondern auch bösartige Sabotage der männlichen Konkurrenz ausgehalten hat. Selbst einen Flugzeugabsturz überlebte sie, Krieg und Hausarrest ebenso. Wird nun ausgerechnet ein krankes Herz die resolute Frau am Boden halten?
Der unberechenbare Muskel wird zumindest künftig noch unruhiger schlagen, was auch an der rauschhaften Liebesbeziehung liegt, die Nelly mit der flatterhaften, zeitweilig bisexuellen Modedesignerin Irma eingeht. Alles ändert sich im Leben der Titelheldin. Sie trennt sich von ihrem Mann Paul, gibt einen Job bei BMW auf, lebt in den Tag hinein und steigt auch wieder ins Cockpit, um mit der Geliebten nach Polen zu fliegen.
Keine Verklärung der 1920er Jahre
Doch die Pilotin zahlt einen hohen gesundheitlichen Preis für den Ausflug, der nur mit steigender Medikamentendosis zu schaffen ist und der nicht nur emotional mit einer Bruchlandung endet. Irma möchte sich nicht binden, sucht das nächste Abenteuer, dieses Mal wieder mit einem Mann, und aus Nellys doppeltem Herzleiden entwickelt sich bald ein schlimmes Drogendrama. Der endgültige Absturz droht.
Aris Fioretos hat einen Roman geschrieben, der nach dem ersten Drittel deutlich an Fahrt gewinnt, und während der Lektüre wird deutlich, dass die Wahl der Erzählperspektive nicht nur literarische Herausforderung ist, sondern auch viele Möglichkeiten bietet. Denn sowohl die Herzmetaphorik als auch die immer wieder eingestreuten Flugmotive werden von Nelly auf selbstironische Weise relativiert.
Lakonisch auch ihr Verhältnis zur ständig wachsenden Abhängigkeit von dubiosen Tropfen und Dämpfen: „Wüsste ich es nicht besser, würde ich annehmen, dass die Ampullen Aufwind enthielten.“
So lässig sich die Erzählerin gibt, so verletzlich und verletzt zeigt sie sich. Diese Literatur ist auf unterhaltsame Weise ausgewogen. Klar und ruhig ist die Prosa, während es in den Flugzeugen, die Nelly steuert, bestimmt laut war und oft geruckelt hat. Das lautmalerische Spiel mit Geräuschen und Gerüchen, mit haptischen und olfaktorischen Sinneseindrücken, im Bett und auf der Straße, ist so stilsicher wie überraschend.
Auch die Nebenstränge des Romans, etwa die Beziehungen in der Pension, in der Nelly nach Auszug aus der ehelichen Wohnung lebt, sind in der Gesamtkonstruktion überzeugend eingebaut. Was jenseits dieses gekonnten Handwerks noch lange nachhallt, sind die eindringlichen Schilderungen, wie sich Mensch und Maschine verbinden können, wie der Text eine Selbstfindung behutsam vorantreibt, die sich keineswegs in einer eindimensionalen Identität erschöpft.
Nelly erkennt leider zu spät, dass sie mehrere Leben gleichzeitig führt. „Lange habe ich geglaubt, es gäbe mich nur in einer Auflage.“ Sie möchte aber Ehefrau, Geliebte und Freundin sein, außerdem Pilotin und harte Handwerkerin. Doch den Wunsch, die verschiedenen Rollen selbstbestimmt auszuleben, kann sich die 39 Jahre alte Frau nicht mehr erfüllen, und das liegt nicht zuletzt an einer so verunsicherten wie restriktiven Gesellschaft.
Im Rückblick werden die 1920er Jahre oft als goldenes Zeitalter verklärt. „Nelly B.s Herz“ zeigt hingegen auf subtile Weise, dass die politischen Umbrüche und Widersprüche dieser Dekade nicht zum Mythos taugen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Aris Fioretos als kluger und eleganter Romancier.
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