Die Zehnerjahre in der Kultur: Allesfresser und Furzwitze
Diese Popkünstler:innen haben das Jahrzehnt gerockt. Eine radikal subjektive Auswahl von sechs taz-Autor:innen.
Die Zehner gehen zu Ende. Und uns beschäftigt eine alles entscheidende Frage: Welche waren die maßgeblichen Popalben des Jahrzehnts? Welche Musik hat ’s gebracht? Verfolgt man einschlägige Internetdienste und Fachmagazine, werden meist die gleichen Top-20-Mainstreamalben genannt. Nein, diese Liste werden wir nicht nachexerzieren. Statt einer pseudoobjektiven „definitiven Hitliste“ bleiben wir lieber radikal subjektiv und schreiben hier über einige unserer magischen Popmomente. Auf die Zwanziger!
Meridian Brothers: „Los Suicidas“ (Soundway, 2015)
Eine feine Überraschung war die kreative Entwicklung der kolumbianischen Musikszene sowie die eigentlich noch verblüffendere Tatsache, dass dies auch global bemerkt wurde. Bands wie Bomba Estéreo begeisterten mit einer frischen Mischung aus zeitgenössischer Clubmusik und dem reichen musikalischen Erbe Kolumbiens.
Parallel zu den neuen Namen tauchten alte Legenden wie Aníbal Velásquez wieder auf, und so wurde klar, dass es in diesem Land ähnlich viele Musikentdeckungen zu machen gibt wie im benachbarten Brasilien. Mittendrin Eblis Álvarez, ein Multiinstrumentalist, Zeichner und Soundtüftler, der zu Beginn seiner Karriere mit dem wichtigsten kolumbianischen Preis für Neue Musik ausgezeichnet wurde und sich anschließend in Aarhus in den Gewerken der elektronischen Musik ausbilden ließ.
Seit 2006 veröffentlicht er als Meridian Brothers Alben, die er in den Estudios Isaac Newton (seinem Schlafzimmer) in Bogotá produziert und auf denen er alles selbst spielt und singt (während live die Meridian Brothers als stabile Quintettbesetzung unterwegs sind).
Dies ist ein ganz eigenes Musikuniversum, gebaut aus gegen den Strich genutzten Vintagesynthesizern, gerne mit einer Extraportion Vibrato fast zum Abheben gebracht, hoch- oder runtergepitchten Vocals, Trümmerteilchen aus altehrwürdigen Stilen wie Vallenato und Beats aus dem unerschöpflichen Cumbia-Universum.
„Los Suicidas“, vom Londoner Label Soundway veröffentlicht, ist die souveränste Ausformulierung dieser musikalischen Vision. Die acht Stücke erheben sich gemächlich und scheinen sich zu bemühen, auch den unvorbereiteten Hörer in diese seltsame Welt mitzunehmen.
Die Nerven: „Fun“ (This Charming Man, 2014)
Der Titel sollte einen nicht in die Irre führen. „Fun“ haben Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn ihr zweites Album genannt, doch nach Spaß hört es sich nicht wirklich an. Eher evoziert „Fun“ ein Gefühl elendigen Angepisstseins.
Vielleicht muss man aus dem Stuttgarter Raum, aus der satten Provinz mit ihren sauberen Bürgersteigen kommen, um diese Unzufriedenheit gegenüber allem und nichts empfinden zu können, gegenüber der „Welt aus Zellophan“ („Nie wieder Scheitern“), und vielleicht braucht man die schroffe Präzision der deutschen Sprache, um sie ausdrücken zu können.
Und so eine Musik, rauen, kantigen, posenfreien Noise, der manchmal nach Sonic Youth klingt, meistens aber einfach nur nach Die Nerven, nach dem Postpunk der Zehnerjahre, dem sie ihren Stempel aufgedrückt haben, nach einem garstigen Millenial-Diskurspop, herangezogen im sauren Atem des Grunge der 90er. Die Nerven stehen prototypisch für eine Reihe Bands, die in den Zehnern das kaum mehr für möglich Gehaltene bewiesen: dass Gitarrenmusik interessant sein, dass sie gleichzeitig auf Vergangenes Bezug nehmen, ganz im digitalen Hier und Jetzt verankert sein und auf die Zukunft verweisen kann.
Einer der besten Songs auf „Fun“ heißt „Angst“ und handelt von jenen diffusen Ängsten, über die in den Feuilletons später noch zu lesen sein würde. „Ich habe Angst vor Begebenheiten, Ängste vor Situationen, obwohl ich weiß, dass diese Ängste sich überhaupt nicht lohnen“, heißt es darin.
Und weiter: „In meinem Kopf spielen sich Dinge ab, die keiner versteht, die keiner verstehen will.“ Im Video – unter der Regie von Maximilian Wiedenhofer – lässt sich die Band von Tocotronic mimen, deren Auftritt in einem Jugendclub am Rande Berlins eine Handvoll Teenager maximal am Rand registriert. Gestern, heute, morgen, zusammengezurrt in weniger als vier nervösen Minuten.
Rihanna: „Anti“ (Roc Nation, 2016)
Die Veröffentlichung von „Anti“ war vor allem eines: chaotisch. Schon für 2015 angekündigt, verspätete sich das sechste Studioalbum von Rihanna immer wieder. Unerwartet am letzten Mittwoch im Januar 2016 war es da. Nicht wie geplant bei Tidal, dem Musikstreamingdienst von Jay-Z, sondern zum freien Download im Netz. „Anti“ wurde geleakt.
Im Gedächtnis der Fans ist unter dem Stichwort „Anti“ etwas anderes geblieben. Es ist das Album, das Rihanna den Status einbrachte, den sie verdient: den einer begnadeten Künstlerin und eines königlichen Popstars. Bemerkenswert ist das, da es im Gegensatz zu ihren vorherigen Alben ohne offensichtliches Dancefutter auskommt – anti eben. Weg also vom EDM-Sound, hin zu einer Mischung aus Soul („Love on the Brain“), Jazz, Funk („James Joint“) und R&B mit Dubstep („Needed Me“).
Highlight ist nicht etwa die erste Singleauskopplung „Work“ mit Rapper Drake, sondern der Eröffnungssong „Consideration“. Auf einen verzerrten Beat macht Rihanna gemeinsam mit der Sängerin SZA eine Liebeserklärung an die Unabhängigkeit: „I got to do things my own way, darling.“
Auch ihr Tame-Impala-Cover „Same Ol’ Mistakes“ ist erwähnenswert. Knapp sieben Minuten singt Rihanna mit Kopfstimme und zeigt damit endgültig, dass sie sich in kein Schema mehr pressen lassen will. Geschadet hat Rihanna das Chaos um die Veröffentlichung im Übrigen nicht. Das Album stieg sofort auf Platz eins. Seither warten wir auf neue Musik von Rihanna.
Dean Blunt: „The Redeemer“ (2013)
Populistischer wäre es gewesen, über die Discorenaissance von Daft Punk zu schreiben, die geifernden Rants der Sleaford Mods oder den soulsampelnden HipHop des Kendrick Lamar. Alle drei haben Meisterwerke abgeliefert, den Sound der Zehnerjahre, genau wie auch die Dirty Projectors. Über die habe ich tatsächlich am meisten geschrieben, auch sie sollen für ihren spektakelnden Progsound erwähnt werden.
Und doch steht für mich der Sound des britischen Künstlers Dean Blunt paradigmatisch für die Zehnerjahre. Wo Mainstreampop mit stilistischen Appetitzüglern oder Gourmetgehabe auf Hooklinesuche ging, verleibte sich Allesfresser Dean Blunt rücksichtslos alle Abfälle und Störgeräusche ein.
Seine Künstlerinszenierung blieb rätselhaft impulsiv und businessunlogisch. Wie ein B. Traven des Pop setzt er für seine Verwirrspiele um Person und Authentizität sogar Doppelgänger ein, selbst mit Handyortung war er zeitweise nicht aufzutreiben. Dann wiederum spammte er wöchentlich Musik. Social Media ging in den Zehnern durch die Decke, für Popstars bedeutete das permanent Präsenz.
Dean Blunts Album „The Redeemer“ – das Cover zeigt schwarze betende Hände auf einem weißem Grund – imaginiert sich die Welt eines Superstars, der New York regiert. Die Musik setzt billigste Harfensamples fürs Drama ein, spült traurige Anrufbeanworterbotschaften wie ein Shanty mit einem Harmonium in die Kanalisation und entwirft im nächsten Moment Ray-Manzarek-artigen Psychpop mit Hammondorgel und Akkustikgitarre. Dean Blunt gelang es, Reizüberflutung in Musik zu fassen.
Schnipo Schranke: „Satt“ (2015)
Fritzi Ernst und Daniela Reis brauchten nicht mehr als einen Refrain, um dem deutschen Indiebetrieb unter die Nase zu reiben, was für ein aseptischer Spießerladen er war. „Du hast mir gezeigt, dass es egal ist, wenn man liebt / schmeckt der Kopf nach Füße und der Genitalbereich nach Pisse“, sangen die Hamburgerinnen 2014 in ihrem Song „Pisse“, der ihnen einen ganz und gar unwahrscheinlichen Kickstart bescherte.
Obwohl oder gerade weil er zeigte, dass Beziehungen nicht nur tragisch-glamourös scheitern können, sondern auch, weil zwei Menschen emotional unzulänglich und hässlich zueinander, sich schließlich sogar peinlich sind. Schnipo Schranke machten sich – auch auf dem Debütalbum „Satt“ (2015) – nackig und rissen dazu noch Furzwitze, sie verbanden Zart- und Derbheit.
Es wäre aber grundfalsch, ihre Kunst auf „Ekelfeminismus“ (so die Welt) zu reduzieren. Schließlich betonten beide immer wieder, sich nicht in politischer Mission zu sehen, womit sie Feministinnen ebenso verärgerten wie alle anderen, die ihr Wirken nun als Selbstzweck akzeptieren mussten. Bei Schnipo Schranke ging es um Grundsätzlicheres als um Körperflüssigkeiten: darum, dass traurige, depressive, unsichere Frauen nicht beschützenswert dreinschauen müssen wie die Protagonistinnen einschlägiger Indiefilme, sondern beunruhigend und unangenehm sein können. Schnipo Schranke machten aus dieser befreienden Erkenntnis garstige Chansons, Musikschülerinnenschlager mit Blockflöte und Keyboard in der rumpeligen Tradition der Lassie Singers – und doch ganz anders. 2017 veröffentlichten sie ihr zweites Album „Rare“, dann war bald Schluss. Nur sieben Jahre sollte es das Duo geben. Wer jemals live sehen durfte, wie sich diese beiden in ihrer Stärke und Verletzlichkeit verausgabten, hat so etwas geahnt.
Julia Holter: „Ekstasis“ (Rvng. Intl, 2012)
Vielleicht wundert sich manche(r) über diese Wahl. Man könnte behaupten, dass allein 2012, im Veröffentlichungsjahr von Julia Holters Zweitling „Ekstasis“, bessere Alben herauskamen: etwa Kendrick Lamars „Good Kid, M.A.A.D City“ oder, sogar noch näher an Holter dran, Laurel Halos „Quarantine“.
Die große Qualität von „Ekstasis“ liegt aber eindeutig im Zeitenwendecharakter. Es war nicht die perfekte Ausführung einer frisch etablierten Form, sondern etwas Neues im alten Gewand. Hatten in den Jahren zuvor noch Weird-Folkies, Chillwaver, Post-Dubsteppas und Dream Houser als Bedroomproduzent:innen für Furore gesorgt, schaffte es Julia Holter hier innerhalb eines einzigen Tracks, dem Auftaktsong „Marienbad“, einen Haufen an Idiosynkrasien abzutragen.
Plötzlich stand nicht mehr der dilettantische Stil des Heimstudios im Vordergrund, der mit genügend Reverb Fehler überdeckte, „Marienbad“ war ein hoch konzentrierter und ebenso hoch konstruierter Song. Augenblicklich war klar: Hier ist der Zufall nicht mehr King oder Queen.
Es begann beim Titel, der an Alain Resnais’ Film „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) erinnert, und endete bei den soundästhetischen Konnexen zu Laurie Anderson, Klaus Nomi, Barockpop und psychedelischem Abdriften und Abdrehen. Billig an der kalifornischen Künstlerin Julia Holter ist gar nichts.
Weder die Hookline von „Our Sorrow“ („Ten signs that read: silence“) noch die tagträumerischen acht Minuten von „Boy in the Moon“, die an den letzten Propofoltrip erinnern. Könnte cheap sein, ist es aber nicht, da es in eine perfekte Dramaturgie eingebaut ist: Julia Holter hält das theatralische Moment wieder hoch. Ein Song hat ein kleines Bühnenstück zu sein. Ganz aus dem Nichts kommt das keineswegs.
Holter öffnete die Tür für Wiederentdeckungen von Komponistinnen wie Sibylle Baier und Linda Perhacs. Ähnlich wie ihre Ahnen schreibt auch Julia Holter große Popsongs – und holte damit Prog zurück auf den Radar. Es geht eben doch: wahnsinnig kopflastig zu sein und zugleich doch ekstatisch. Hier gelingt es in Perfektion.
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