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Neuwahlen in GroßbritannienErstaunlich unpopulär

Am Donnerstag wählen die Briten ein neues Unterhaus. Was man über die Abstimmung wissen muss – und worum es auf der Insel jetzt geht.

Gilt als der einzige ernstzunehmende Konkurrent von Boris Johnson: Jeremy Corbyn Foto: Joe Giddens/ap

1. Am Donnerstag wählen die Briten nicht nur ihr Unterhaus neu, sie entscheiden auch über den Brexit. Premierminister Boris Johnson, seit 24. Juli im Amt, sucht eine eigene Mehrheit für seine Konservativen im Parlament. Im Fall eines Johnson-Siegs würde das Unterhaus den neu ausgehandelten Brexit-Deal mit der EU umgehend verabschieden und ratifizieren – am 31. Januar 2020 würde Großbritannien die EU verlassen.

Einziger ernst zu nehmender Gegenkandidat bei der Wahl des Premierministers ist Jeremy Corbyn, seit 2015 Chef der oppositionellen Labour-Partei. Corbyn will Johnsons Deal versenken, einen eigenen Deal mit der EU aushandeln und dann noch 2020 eine neue Brexit-Volksabstimmung ansetzen, bei der die Briten sich zwischen dem Corbyn-Deal und einem Verbleib in der EU entscheiden sollen.

2. Ein Wahlsieg der Konservativen ist am wahrscheinlichsten. Das britische Mehrheitswahlrecht sieht vor, dass keine Parteilisten gewählt werden, sondern 650 Wahlkreisabgeordnete; das ist etwa so, wie wenn es in Deutschland bei der Bundestagswahl nur die Erststimme gäbe. Wer in einem Wahlkreis vorne liegt, holt den Sitz. Landesweit gesehen, ist daher nicht so sehr die absolute Zahl der Stimmen entscheidend, sondern der Vorsprung vor dem Gegner.

2017 holten die Konservativen unter Theresa May zwar 42 Prozent, büßten aber die absolute Mehrheit ein, weil Labour mit 40 Prozent fast aufholte. Nach aktuellem Stand der Umfragen liegen die Konservativen unter Boris Johnson nun auch bei 42 Prozent, Labour aber bei nur 33 Prozent. Das würde für eine satte absolute Mehrheit der Tories reichen. Aber Vorsicht: Eine Woche vor den Wahlen 2017 waren die Umfragewerte fast genauso wie jetzt, doch das Wahlergebnis fiel dann anders aus.

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3. Boris Johnson und Jeremy Corbyn sind erstaunlich unpopulär – obwohl sie beide ständig als Populisten beschimpft werden. Nur 41 Prozent der Briten wünschen sich Johnson als Premierminister, nur 22 Prozent Corbyn. Eine gute Meinung von Boris Johnson hatten in der letzten Umfrage 33 Prozent der Befragten, 47 Prozent hatten eine schlechte. Bei Jeremy Corbyn war das Verhältnis noch unvorteilhafter: 22 zu 60 Prozent.

Bemerkenswerterweise hat der Zuspruch zu allen Parteiführern im Laufe des Wahlkampfs abgenommen, auch für Jo Swinson von den Liberaldemokraten und Nigel Farage von der Brexit Party. Wenn Johnson siegt, dann nicht, weil die Leute ihn besonders mögen, sondern weil sie alle anderen noch schlimmer finden. Und wenn Labour schlecht abschneidet, dann liegt das vor allem an der Unbeliebtheit Corbyns.

Boris Johnson wechselt als Wahlkämpfer auch mal die Reifen von Rennwagen Foto: Hannah Mckay/reuters

4. Die anderen landesweit antretenden Parteien haben keine Chance. Vor einem halben Jahr gewannen sie noch die Europawahl: Damals sah es so aus, als könnte im rechten Lager die Brexit Party mit ihrem klaren Pro-Brexit-Kurs an die Stelle der zerstrittenen Konservativen treten. Auf der linken Seite verdrängten die Liberaldemokraten mit ihrem klaren Anti-Brexit-Kurs die Labour-Partei.

Der Höhenflug der beiden war aber schnell vorbei, und im laufenden Wahlkampf haben sie beide stetig Federn gelassen. Aktuell liegen die Liberaldemokraten bei 13 und die Brexit Party bei 3 Prozent. Letztere werden wohl keinen einzigen Sitz gewinnen; bei den Liberaldemokraten könnte die neue Chefin Jo Swinson aus dem Parlament fliegen.

5. Die Briten sind ihrer Politiker überdrüssig, politikmüde sind sie keineswegs. Seit das Parlament Ende Oktober die Selbstauflösung beschloss und Neuwahlen ansetzte, haben sich bis zum Ablauf der Registrierungsfrist 3,85 Millionen neue Wählerinnen und Wähler registriert, davon allein 660.000 am letztmöglichen Tag – eine Rekordzahl. Wahlveranstaltungen sind durchweg gut besucht, die Aktivitäten in sozialen Netzwerken sind enorm, und in Umfragen erhält die Aussage, dies sei eine Schicksalswahl für das Land, starke Zustimmung.

6. Ein fairer Wahlkampf sieht anders aus. Zwar hat sich die Befürchtung, dass es während des Wahlkampfs zu Gewalt kommen könnte, bislang nicht bewahrheitet. Doch alle Parteien lügen und verteufeln den politischen Gegner hemmungslos. Konservative und Labour behaupten beide, der jeweils andere werde das Land in den sicheren Untergang führen. In sozialen Netzwerken tobt der Propagandakrieg: Johnson wurde von links mit Hitler gleichgesetzt. Aus Labour-Sicht steht er für den Ausverkauf Großbritanniens an Donald Trump und die Superreichen, außerdem für einen gravierenden Abbau sämtlicher Bürger- und Arbeitnehmerrechte, der Millionen von Menschen ins Elend stürzen wird.

Corbyn wiederum wurde von rechts mit Stalin verglichen. Aus konservativer Sicht steht er für eine Rolle rückwärts in einen Staatssozialismus mit antisemitischer Grundhaltung, der dazu führen wird, dass alle Reichen das Land verlassen und die Juden sowieso. Da beide Seiten die Negativpropaganda stärker betonen als die positive Werbung für sich selbst, ergibt das ein ziemlich düsteres Gesamtbild.

7. Am Ende könnte Wahlfälschung entscheidend sein. Großbritannien hat kein Melderegister, also sind Wahlen fehleranfällig. Bei der Stimmabgabe muss man sich nicht ausweisen und nicht einmal eine Wahlkarte vorlegen; man sagt bloß seinen Namen, überprüft wird er nicht. Viele Studierende sind doppelt registriert, obwohl das verboten ist, einmal in ihrem Heimatort und einmal an ihrem Studienort. Manche brüsten sich damit, dass sie doppelt abstimmen.

Als probates Mittel für Aktivisten, einen Wahlkreis zu „drehen“, gilt das zunehmend wichtige Briefwahlverfahren – 2017 wurden 18 Prozent aller Stimmen per Briefwahl abgegeben. Jeder Brite kann ohne Begründung die Briefwahl beantragen, nicht nur für sich, sondern für den gesamten Haushalt. Der Stimmzettel muss nicht zurückgeschickt werden. Er kann noch am Wahltag bis zur Schließung der Wahllokale per Hand eingereicht werden, auch durch Dritte wie zum Beispiel Wahlhelfer der Parteien – eine Einladung zur Manipulation. Wegen der vielen Wahlen in den vergangenen Jahren kam es noch nicht zu dringend nötigen Reformen, um das Wahlverfahren zu sanieren.

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11 Kommentare

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  • Wow..! Das ist- sage ich- "klare Aufklärung" - von Herrn Johnson ! ...leider wird die TAZ im UK wohl nicht genug gelesen ? Bei dem `Mediensalat´der im UK herrscht.. diese Verwirrung ! ..es täte vielen UK Menschen und Journalisten gut , die TAZ zu lesen..

  • Unpopulär? Naja, die Mehrheit hat eine Entscheidung gefällt, die im demokratischen Leben von der unterlegenen Seite zu akzeptieren ist. Da nun so lange neu wählen lassen zu wollen, bis da ein angenehmeres Ergebnis rüberkommt, ist verständlich, aber eigentlich so in der Demokratie nicht gedacht. Wenn wir immer und überall so lange wählen, bis das rauskommt, was bestimmte Kreise so wünschen, dann können wir uns das mit der Demokratie auch schenken.

  • G
    Gast

    @SammyStein @ Ruebenkraut Ich stimme euch voll und ganz zu.



    Was mich auch geschockt hat, war der Kommentar über die Wahl von Saskia Esken und Norber Walter.



    Für die Wahl in GB bin ich vor allem NovaraMedia gefolgt. Die hatten einen wesentlich differenzierteren Blick auf die Wahl.

  • In der Aufzählung fehlt mir die Rolle der Medien in UK.

  • wenn die labour-partei jetzt die wahl gewinnen würde,wäre der wahlsieg nahezu wertlos,weil es dann wahrscheinlich nicht zum brexit käme und die undemokratische und antisoziale von neoliberalen dominierte eu sie daran hindern könnte und würde den kapitalismus in grossbritannien abzuschaffen.als griechenland klar und deutlich nein zum neoliberalismus sagte und entsprechend wählte und abstimmte ,wurde dieses nein von der eu nicht respektiert.sogar als frankreich und die niederlande nein zu der pseudoverfassung der eu sagten wurde deren reaktionärer neoliberaler inhalt ihnen unter anderem namen dennoch aufgezwungen .genauso erginge es grossbritannien.wahlen und abstimmungen haben keine bedeutung und können nichts ändern solange die eu ein undemokratisches und antisoziales von neoliberalen dominiertes projekt prokapitalistischer eliten bleibt.



    erst nach dem brexit wird das anders sein.erst nach dem brexit wird das britische volk wieder souverän sein..der schaden den Boris Johnson in einer legislaturperiode anrichten kann wird begrenzt sein .die nächsten wahlen kommen ja in wenigen jahren und wenn die labour-partei sie gewinnt kann sie die herrschaft des reaktionären neoliberalen spätkapitalismus über grossbritannien beenden.



    das wäre ein bedeutender sieg des sozialismus.der sicher auch dazu beitrüge den sieg des sozialismus in amerika vorzubereiten.

    • @satgurupseudologos:

      Herzlichen Glückwunsch zur deutlichen Meinung. Ich finde sie allerdings ein bisschen zu wenig untermauert. Z.B. ist es noch die Frage, ob das britische Volk nach dem Brexit souverän sein wird - oder ob es der 52. Bundesstaat der USA wird oder als Steueroase zum Billiglohnland mit Kolonialstatus für die "erste Welt Länder" verkommt. Die Geschichte mal von unten zu betrachten, könnte allerdings auch zur Läuterung und damit ein wenig Bescheidenheit führen, was den Angehörigen des Empire sicher gut zu Gesicht stünde.



      Den Schaden, den Boris Johnson anrichten kann, halten Sie für begrenzt? Hm. Das denkt nicht mal Boris Johnson selbst. Er verkündete, dass 2050 GB wieder on top sein werde, was a) noch die Frage ist, und b) bedeutet, dass die alte Nationalistengeneration von Pro-Brexit-Wählern, ohne selbst in die Vorzüge des Brexit zu kommen (da bis zum genannten Datum vermutlich bereits ausgestorben), die aktuelle Generation über die Klinge springen lässt, damit dann - möglicherweise - die Enkelgeneration es wieder besser haben wird. Sehr altruistisch und vorausschauend gehandelt, ist man gar nicht gewohnt vom Wähler. Normalerweise macht der doch sein Kreuzchen dort, wo die schönsten Versprechen gemacht werden, und bleibt auch dabei, wenn sie sich schon kurz darauf, siehe Brexit, als erstunken und erlogen erweisen.



      Die Labour Party, auch da teile ich Ihren Optimismus keineswegs, wird nie und nimmer den "reaktionären, neolibarelen Spätkapitalismus" beenden. Woraus schliessen Sie das denn? Daraus das Corbyn als personifizierte nationale Tragödie erst einmal Labour selbst über die Klippe schubst? Er hat die Chance seines Lebens nicht mal erkannt, wie sollte er sie dann um Himmels willen nutzen, und sein Nachfolger wird zunächst einmal Aufräumarbeiten in den Ruinen seiner Partei zu erledigen haben, bevor er den Kapitalismus erledigen wird können.



      Ein bedeutsamer Sieg für den Sozialismus. Sorry, es muss jetzt einfach mal raus: selten so gelacht!

      • @Stechpalme:

        Corbyn sollte jetzt so schnell wie möglich zurücktreten und seine ihm verbliebene macht nur noch dazu nutzen dafür zu sorgen dass seine nachfolgerin oder sein nachfolger kein*e neoliberale*(r) blairist*in wird.

        dass grossbritannien sich nun stärker an die usa annähern wird ,betrachte Ich als eine chance .vielleicht können die briten ,die sich von ihrer imperialistischen hybris schon verabschiedet haben den angloamerikaner*innen dabei helfen von ihrer imperialistischen hybris herunterzukommen.das wäre für die welt sehr gut.denn es würde dem frieden der entspannung und der abrüstung dienen und viel geld für den klimaschutz freisetzen.



        die usa könnten sich in 50 oder 51 staaten auflösen die dem britischen commonwealth beitreten.dann entfiele das amt des us-präsidenten und das wäre für eine weniger unfriedliche aussenpolitik gut.



        die vereinigung der repräsentationsfunktion mit der leitung der regierung verführt zum missbrauch von macht und zu einer übermässigen ideologisierung der politik.die queen oder der king ist insofern indirekt sehr nützlich.weil er oder sie sich nicht in die politik einmischt richtet er oder sie auch keinen schaden an.aber dadurch dass sie oder er die repräsentationsfunktion besetzt können machtpolitiker*innen diese nicht missbrauchen.

  • Ich bin deutsch-brite, hatte die Taz einst abonniert, Taz.de war meine Browser-Startseite. Die Erfahrungen des derzeitigen britischen Wahlkampfs haben mir ins Gedächtnis gerufen, wie wichtig eine unabhängige, linke Zeitung ist – in dieser Hinsicht ist die Medienlandschaft in Deutschland verglichen mit GB ein Paradies. Nun erwäge ich die Taz wieder zu unterstützen und mache mich auf ein neues mit ihrer Berichterstattung vertraut.

    Dabei geben mir die Berichte über die Wahl in GB leider wenig Anlass, ein Abo abzuschließen. Die Analyse ist bestenfalls oberflächlich und hebt sich von bspw. den wenig erhellenden Londoner Depeschen von B.Schulz in der ZEIT nicht ab.

    6. Ein fairer Wahlkampf sieht anders aus: zuerst einmal ist es sehr wohl zu Gewalt gekommen. Mehrere Labour-Aktivistinnen (noch dazu Seniorinnen) wurden im Wahlkampf angegriffen.



    Darüber hinaus werden hier social-media-Beschimpfungen gleichgesetzt. Kein Wort über die andauernde Lügenkampagne von Rechts und das Versagen der Presse, auch der BBC, dieser Trumpschen strategie beizukommen. Analysen dazu gibt es etwa hier: firstdraftnews.org/latest/



    Nichts zu der extrem-rechten Wende der Konservativen, die im Wahlprogramm Pogrome gegen Roma ankündigt: bit.ly/38tSLca und den Rechtsstaat in Frage stellt.



    Desweiteren: keine Informationen zu den materiellen Bedingunngen, den desaströsen Zuständen im Land etwa bei der Kinderarmut, im Gesundheitsdienst…die die Wahl rahmen und prägen.



    Stattdessen: Unfug über Wahlbetrug, der schlicht nicht stattfindet – ein rechter talking point. www.bbc.com/news/uk-politics-43245969

    Nun habe ich das Glück, mich in UK gut auszukennen. Aber der Berichterstattung der Taz über andere Länder habe ich so keinen Grund zu trauen. Immerhin ist Le Monde Diplomatique im Abo enthalten. Die Taz sollte sich aber fragen, worauf es ihr bei Auslandsreportage ankommt. Dieser Listicle ist bestenfalls überflüssig, aufklären tut er nicht.

    • @ruebenkraut:

      dass die konservative partei" in ihrem Wahlprogramm Pogrome gegen Roma ankündigt " kann Ich aus dem text den Sie als beweis dafür präsentieren nicht herauslesen.Wissen Sie überhaupt was ein "Pogrom" ist.? man soll politische gegner*innen oder sogar politische feinde nicht verleumden sondern stattdessen wahres über sie sagen dass unangenehm oder sogar sehr unangenehm für sie ist .soviel fairness muss sein.



      dass es auch in grossbritannien rassismus gibt und dass die konservative partei und ihr anführer den rassismus zuweilen opportunistisch fördern ist ein plausibler vorwurf dessen berechtigung sich höchstwahrscheinlich beweisen lässt.

    • 0G
      06313 (Profil gelöscht)
      @ruebenkraut:

      "Aber der Berichterstattung der Taz über andere Länder habe ich so keinen Grund zu trauen."

      Leider muss ich Ihnen recht geben. Ist mir bei Berichten über Länder, die mir vertraut sind und über die ich mich anderweitig informiere, auch schon aufgefallen.

    • @ruebenkraut:

      Vielen Dank für diese Ergänzung!