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Sorgerechtsentzug nach SchulproblemenFamilie in Bedrängnis

Ein Ehepaar aus Bad Schwartau verlor wegen Schulproblemen das Sorgerecht für den ältesten Sohn und fürchtet, dass das beim jüngsten wieder passiert.

Das Ehepaar Cicek möchte das Sorgerecht für ihren Sohn zurück Foto: Christiane Schröder

Bad Schwartau taz | Erst mal gibt es Torte, mit Schokolade, Sahne und zwischendrin Banane. Dilaver Cicek hat sie gebacken. Die Mutter feiert ihren 44. Geburtstag. Deshalb durfte Baran* (16) aus dem Internat zu Besuch kommen. Sein Bruder Agit* (10) sitzt eine Weile mit auf der Bank, dann langweilt er sich und geht aufs Zimmer. In der Regalwand hinter Vater Acil Cicek stehen dutzende Aktenordner: Anwaltspost, Gerichtsbriefe. Die Familie hat viele Probleme. „Wir sind in einem Teufelskreis“, sagt der Vater.

Die Tochter kommt in den Essflur der Wohnung, trägt liebevoll ihre schwarz-weiße Katze auf dem Arm. Angeblich soll sie sie neulich aus dem Fenster gehalten haben. Nachbarn der Sozialsiedlung von Bad Schwartau meldeten dies dem Ordnungsamt, das Amt schickte einen bösen Brief. Darüber können sie fast noch lachen.

Weniger lustig ist das Handy-Video, das Mutter Dilaver an der Haustür aufnahm: Ein Pulk von aufgebrachten Nachbarn steht im Treppenflur. Angeblich soll Agit draußen auf dem Spielplatz ein Tier getötet haben. Der Sohn sei Autist, den dürfte die Mutter nicht frei rumlaufen lassen, schimpft eine Frau. „Der Junge hat Angst vor den anderen Kindern auf dem Spielplatz, sie lauern ihm auf und ärgern ihn“, berichtet der Vater.

Der 57-Jährige war Lehrer in der Türkei, wo er als Kurde politisch verfolgt wurde. 1988 floh er nach Deutschland, gründete mit Dilaver eine Familie, und arbeitete bis vor Kurzem als Sozialarbeiter. Er spricht kurdisch, türkisch und deutsch mit Akzent.

Drei Stunden Schulweg mit Bus und Bahn

Die Probleme zeichneten sich für ihn schon 2007 ab, als der älteste Sohn einen Kita-Platz brauchte. Es gebe zu wenig Plätze, hörte er vom Amt in Plön. Man könnte Baran aber aufgrund seines Migrationshintergrundes als „Integrationskind“ einstufen. Schon diesen Blick auf die Kinder fand Acil Cicek diskriminierend.

Sein Sohn konnte dann in mehreren Schulen nicht Fuß fassen, wurde gemobbt, war Außenseiter, er selber sagt „Klassenclown“, lernte zu wenig trotz Begabung. Er flog vom Gymnasium, musste dann morgens drei Stunden mit Bus und Bahn zur Gemeinschaftsschule nach Neustadt fahren. Er galt als verhaltensauffällig. Der Vater sagt, Baran sei oft zu unrecht beschuldigt worden. Er stand zu ihm.

Im August 2017 dann der Schock. Das Gericht entzieht den Eltern das Sorgerecht für den Ältesten. Grundlage ist ein Gutachten. Ein Psychiater schrieb, die Erziehungsfähigkeit des Vaters sei eingeschränkt durch die Vorstellung, er und sein Sohn seien Opfer des Systems.

Cicek sagt, der Sorgerechtsentzug habe ihm gesellschaftlich das Genick gebrochen. Danach habe er seine Arbeit verloren. Ein Vorwurf der Kindeswohlgefährdung sei ein „Stempel“. Heute ist er hoch verschuldet, findet weder eine neue Wohnung mit netteren Nachbarn noch einen Anwalt und glaubt, dass das kein Zufall ist.

Ein Professor, dem er das Gutachten vorlegte, nannte dies einseitig, unlogisch und ungenau. Und eine Psychologin, die Baran gut kannte, kritisiert, die Ursachen für die Schulschwierigkeiten seien vom Jugendamt immer in der Familie gesucht worden und weniger „in verpassten Gelegenheiten der Schule, adäquate Hilfe zu leisten“. Sie vermutete, dass der Junge Asperger-Autismus hat, eine Störung, die nahezu unabhängig vom Erziehungsstil der Eltern besteht.

Die Autorin unterhält sich mit Baran allein im Kinderzimmer. Er sagt den traurigen Satz: „Ich gehöre ja jetzt dem Jugendamt.“ Er findet das schlimm und sagt, er rede nicht mit denen. Zum Beispiel wurde ihm von seiner Vormündin an einigen Wochenenden untersagt, vom Internat nach Hause zu fahren, obwohl er dort seine Familie und seine Freunde hat. Rein schulisch läuft es dort gut.

Die Idee mit dem Internat hatten seine Eltern schon früh. Seit dem Sorgerechtsentzug ist es die Maßnahme, die das Jugendamt für ihn bezahlt. Doch er fühlt sich da wie in einer Sonderrolle, wie ein „Gefangener“. Er werde immer weiter gegen den Sorgerechtsentzug klagen.

Ein Pulk aufgebrachter Nachbarn steht im Treppenflur. Agit soll draußen auf dem Spielplatz ein Tier getötet haben

Ganz hart traf es die Ciceks, als Agit eingeschult wurde. Schon drei Wochen später bekam er eine Schulbegleitung, die aber häufig krank war, so dass er kaum hin konnte. Ein halbes Jahr später musste Agit die Grundschule verlassen und sollte fortan an einem „Förderzentrum“ mit Schwerpunkt „geistige Entwicklung“ lernen.

Grundlage war ein Gutachten, dass ohne Zustimmung der Eltern erstellt wurde. Sie legten Widerspruch ein, gingen dagegen gerichtlich vor, bislang ohne Erfolg. Die Ciceks sind überzeugt, dass ihr Jüngster keine geistige Behinderung hat, sondern ähnlich wie der Bruder eine Störung im Autismusspektrum. „Das war eine komplette Fehldiagnose“, sagt Acil Cicek.

Die Eltern hatten den Jungen, der damals kaum sprach, bereits vor der Einschulung zu einer Untersuchung ins Sozialpädiatrische Zentrum Pelzerhaken gebracht, die 2018 in der Uniklinik Eppendorf (UKE) abgeschlossen wurde. Auf Basis dieser Berichte und eigener Beobachtungen erkannte das Institut für Qualitätsentwicklung in Schleswig-Holstein (IQ-SH) im März den Förderschwerpunkt Autismus an. Er könne mit einem eignen Förderplan inklusiv unterrichtet werden.

Die Eltern beantragten, den Jungen wieder an seine alte Klasse zu schicken. Denn er fühlt sich an dem Förderzentrum nicht wohl. „Wir bringen ihn jedem Morgen dort hin. Er bleibt dort nicht lange. Wenn man ihn zwingt, bekommt er eine Krise“, sagt der Vater.

Wieder Post vom Jugendamt

„Um Frieden zu schließen, haben wir von uns aus angeboten, ein neues Gutachten zu machen“, fährt er fort. Das war auch geplant – bis Anfang Juni Post vom Jugendamt gekommen sei: Eine Einladung zum Gespräch über eine „mögliche Kindeswohlgefährdung“.

Das Jugendamt wirft den Eltern vor, dass sie den Jungen wieder mitnehmen, wenn er nicht im Förderzentrum bleiben will. „Die Kindeseltern wirken hier nicht erzieherisch, unterstützend oder motivierend auf ihr Kind ein“, teilt der Landkreis auf taz-Nachfrage mit. Die Sache ist ernst. Sogar ein Hausbesuch fand schon statt.

Sie könne ihr Kind nicht zwingen, sagt die Mutter. Die Ciceks wissen nicht, was sie tun sollen. Sie fürchten, dass man ihnen wieder das Sorgerecht nimmt. Das Schulamt kann im Zweifel über den Schulort bestimmen, so ist in Schleswig-Holstein die Gesetzeslage. Das Bildungsministerium äußert sich nicht zum Einzelfall.

Acil Cicek sagt, dass sein Sohn schon etwas lese und schreibe, und auch von seinem Bruder lerne. Auch spricht er Englisch und Türkisch. Auch handeln kann er schon. Als die Fotografin kommt, fordert er keck zwei Euro Honorar.

*Name geändert

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2 Kommentare

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  • Leider habe ich selten eine so einseitige Reportage gelesen...

    Ganz offensichtlich macht sich die Autorin die Sicht von Herr Cicek, er sei ein "Opfer des Systems", kritiklos zu eigen. Dabei zeigen schon die Ereignisse, von denen im Artikel berichtet wird, dass Außenstehende einen deutlich anderen Blick auf Eltern und Kinder haben; eigentlich ein Anlass, die Behauptungen von Herrn Cicek journalistisch zu überprüfen. Was soll das Jugendamt mit Eltern machen, die ihr Kind wieder mitnehmen, wenn sich das Kind entscheidet, morgens nicht zur Schule gehen zu wollen. Das Kind ist 10! Natürlich müssen da die Eltern zur Not zum Schulgang zwingen...

    • @thd:

      Was ist denn das für eine schreckliche Sichtweise auf junge Menschen? Nahezu überall auf der Welt, zumindest in allen Demokratien außerhalb Deutschlands und Schwedens gibt es Ausnahmen von der Schulpflicht und Kinder lernen dort sehr frei und selbstbestimmt abseits von Schule und entwickeln sich zu glücklichen, gebildeten, lebensfähigen Erwachsenen. Wie hier aus lauter Paternalismus heraus Kinderseelen gebrochen werden und Grundrechte eklatant missachtet werden, ist wirklich himmelschreiend!



      By the way: Es gibt inzwischen auch hier in Deutschland schon mehrere Tausend Familien deren Kinder auf eigenen Wunsch schulfrei leben und lernen und immer öfter schaut das Jugendamt billigend zu und es gibt darüber hinaus sogar wohlwollende Urteile von Familiengerichten. Dass es hier bei der Familie mit Migrationshintergrund anders läuft, ist im Prinzip also wiedermal ein Fall von eklatanter Diskriminierung, weil man gut situierte Familien ohne Migrationshintergrund, welche die Rechte und Selbstbestimmungswünsche ihrer Kinder ernst nehmen, immer häufiger unbehelligt sieht.