Stereotype über Ostdeutsche: Gegen das Klischee
30 Jahre nach dem Mauerfall existieren noch immer Vorurteile. Die Plattform „Wir sind der Osten“ hält mit Porträts dagegen.
Auf den ersten Blick kommt www.wirsindderosten.de fast wie ein Karriereportal daher. Das schlicht-moderne Layout fasst Steckbriefe mit Foto, Herkunft und Links zu Social Media – und Xing-Profilen. Etwas startupig klingt auch der Slogan „Wir gestalten die Zukunft“. Das wäre nicht verwerflich, bedenkt man, dass noch immer nur 1,7 Prozent der Führungspositionen des Landes Ostdeutsche innehaben. Ein Treffpunkt für Wendegewinner*innen und ostdeutsche Liberalos? Die kürzlich veröffentlichte Plattform ist weitaus mehr.
Sie stellt Fragen, für die es bisher kaum Raum gab. Nach dem Einfluss der Herkunft auf das eigene Leben, nach Gefühlen und Wünschen. Sie redet nicht „über“ den Osten, sondern bietet Raum für ostdeutsche Stimmen. Dafür wurden 200 möglichst vielfältige Menschen aus dem eigenen Netzwerk befragt, erzählt Christian Bollert. Der Geschäftsführer vom Internetradio und Podcastlabel detektor.fm ist einer der Köpfe von „Wir sind der Osten“. Er fühlt sich ostdeutsch.
Das gilt aber weniger für das ganze Initiator*innen-Team wie für die Befragten. Die Ergebnisse seien erstaunlich ausgewogen ambivalent, erzählt Bollert. Es gibt verschiedene Motive dafür, sich ostdeutsch zu fühlen. Manch eine Person mag sich ihrer Herkunft, andere ihrer kulturellen Praxen verbunden fühlen. Doch auch: „Die, die sich nicht ostdeutsch fühlen, wurden in den letzten Jahren häufig auf ihre Identität angesprochen. Und dann fängst du an, dich damit auseinanderzusetzen. Du wirst in eine Gruppe gesteckt.“
So richtig los werden wir es nicht, das Ostdeutsche. Um die Zukunft zu gestalten, fragt die Initiative nicht nach dem Zugehörigkeitsgefühl zur Bundesrepublik oder Europa, sondern nach einer Auseinandersetzung mit dem Ostdeutschsein. „Das ist vielleicht jetzt im Moment die entscheidende Frage“, sagt Bollert.
Muss der Ossi zufrieden lächeln?
Das mag vorerst widersprüchlich klingen – ist es aber nicht. Das lehrt zum Beispiel Fiete Aleksander, der sich laut Steckbrief für die Zukunft wünscht, „dass wir nicht mehr zwischen Ost und West unterscheiden müssen“. Er fühlt sich nicht ostdeutsch, sieht aber durchaus eine anhaltende Chancenungleichheit.
Die individuellen Geschichten brechen mit dem Bild des „Jammer-Ossi“, des Passiven, des Ewiggestrigen, des Rechten, des Unmündigen. Sie zeigen nicht nur die viel besprochene „Seele“ des Ossis, sondern auch seinen Kopf. Zeigen ihn in seiner Pluralität, sozialstrukturell wie auch in seinen Ansichten.
Das Ziel sei es gewesen, ein „seriöses Abbild der Gesellschaft“ zu schaffen, sagt Bollert. Ein Abbild der ostdeutschen Gesellschaft, das gab es bisher weniger und wirft tatsächlich die Frage auf, wer dazu zählte. Zur Gesellschaft gehören bisher drei Kategorien: Gebliebene, Gegangene, Zurückgekehrte.
Im Diskurs um dreißig Jahre Mauerfall geht es nicht mehr nur um die DDR, die Vergangenheit, sondern auch um das Heute, um Ostdeutschland. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Wende- und Nachwendekindern lange abgesprochen wurde, sich zu dieser Geschichte zu äußern.
Doch sind nicht auch Menschen aus Westdeutschland Teil vom Post-DDR-Ostdeutschland? „Ich kenne Menschen, die 91/92 nach Leipzig kamen. Die haben auch von Nazis auf die Fresse bekommen. Denen würde ich das nicht absprechen“, sagt Bollert. Das Potenzial, auch diese zu Wort kommen zu lassen, hat „Wir sind der Osten“ allemal.
Denn mit Veröffentlichung der Website wird auch der Kreis der dargestellten Personen geöffnet. Alle können Teil von dem Projekt werden. Zum Fragebogen können auch Fotos hochgeladen werden. „Zeig uns deine Zähne, wir wollen dich lächeln sehen“, heißt es dort. Auch dreißig Jahren nach der Wende ist nicht allen zum Lächeln zumute. Muss der Ossi zufrieden lächeln oder nicht auch ernsthaft fordern? Auch diese Antwort kann nun mitgestaltet werden.
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