Von der Leyen als EU-Kommissionschefin: An der Macht und unter Druck
Ursula von der Leyen muss als Kommissionspräsidentin nun schnell an die Arbeit. Die Frage ist, ob sie mit europafeindlichen Kräften paktieren könnte.
„Ich hoffe, dass die Kommission so schnell wie möglich die Arbeit aufnehmen kann“, sagte der Präsident des EU-Parlaments, David Sassoli, am Mittwoch in Straßburg. Auf die erste Frau an der Spitze der Brüsseler Behörde komme viel Arbeit zu, der Brexit und das neue EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 könnten nicht warten. Deshalb solle von der Leyen schleunigst ihr Team bilden.
Auch die Mitgliedstaaten haben es eilig. Noch bevor die neue Kommission am 1. November ihre Arbeit aufnimmt, wollen sie Taten sehen. Einige Staaten verlangen, dass von der Leyen ihnen wichtige Ressorts zuweist. Andere erwarten, dass sie Absprachen honoriert, die mit ihrer umstrittenen Nominierung verbunden waren.
So würde Frankreich gern den nächsten Generalsekretär der Kommission stellen. Der bisherige Amtsinhaber, der umstrittene deutsche Jurist Martin Selmayr, räumt seinen Posten, nachdem ihm von der Leyen bedeutet hatte, in der Führungsetage der EU-Behörde sei nur Platz für eine Deutsche. Präsident Emmanuel Macron lauert seit Langem auf eine Gelegenheit, Selmayr auszuwechseln.
Wenig „Beinfreiheit“ für von der Leyen
Italien hätte gern einen mächtigen Wirtschaftskommissar, Polen und Ungarn hoffen auf Nachsicht bei den laufenden Rechtsstaatsverfahren. Dänemark und die Niederlande erwarten, dass ihre EU-Kommissare – Margrethe Vestager und Frans Timmermans – zu mächtigen Vizepräsidenten ernannt werden. Und Spanien pocht auf den EU-Beschluss, Josep Borrell zum Außenbeauftragten zu machen.
Viel „Beinfreiheit“ bleibt von der Leyen also nicht mehr, zumal sie ein Wahlversprechen einlösen will: Mindestens die Hälfte ihrer Kommission soll weiblich sein. Bisher haben die Staaten aber kaum Frauen nominiert. Im Zweifel werde sie nicht zögern, mehr Frauen anzufordern, erklärte von der Leyen bei ihrer Bewerbungsrede am Dienstag.
Doch zunächst hat sie selbst ein Problem: Denn nach der Besetzung des Teams müssen die Kommissarinnen und Kommissare auch noch die Anhörungen im Europaparlament bestehen. Doch was passiert, wenn Länder wie Ungarn oder Italien rechtslastige Politiker nominieren? Was ist, wenn ein Land sich weigert, nicht mehrheitsfähige Bewerber zurückzuziehen?
Hoher Preis für Unterstützung?
Dies dürfte der erste Härtetest für die neue EU-Präsidentin werden; er kommt kurz nach der Sommerpause im September. Von der Leyen steht dabei unter besonderer Beobachtung. Denn sie kann sich nicht auf eine proeuropäische Mehrheit im Europaparlament stützen. Vielmehr steht sie unter Verdacht, mithilfe von Populisten und Nationalisten an die Macht gekommen zu sein.
Schon vor ihrer Wahl haben Sozialdemokraten und Grüne gewarnt: Die osteuropäischen Visegrád-Länder könnten einen hohen Preis dafür verlangen, dass sie von der Leyen unterstützt haben. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hatte sich sogar damit gebrüstet, die Deutsche aufs Schild gehoben zu haben.
„Mehrheit ist Mehrheit“, bürstete von der Leyen kritische Nachfragen ab. Doch nach der knappen Abstimmung – sie bekam nur neun Stimmen mehr als nötig – richten sich die Blicke mehr denn je auf das rechte und EU-kritische Lager im Europaparlament. Die große Frage ist, ob sich die neue Kommissionschefin in den nächsten fünf Jahren auf wechselnde Mehrheiten stützt – und dabei auch mit Populisten und Nationalisten paktieren könnte.
Schützenhilfe von verschiedenen Seiten
Mehrere Wortmeldungen und Berichte scheinen diese Sorge zu bestätigen. „Manfred Weber wollte nicht mit den Stimmen der Fidesz Kommissionspräsident werden, aber von der Leyen wurde es, und jetzt gratulieren wir ihr gemeinsam“, erklärte die ungarische Justizministerin Judit Varga. Offenbar haben die 13 Fidesz-Abgeordneten geschlossen für die neue Frau in Brüssel gestimmt – und das, obwohl Fidesz offiziell von der Europäischen Volkspartei suspendiert ist, der auch die CDU angehört.
Auch aus Polen erhielt von der Leyen Schützenhilfe. „Ohne die Stimmen der PiS wäre von der Leyen nicht Kommissionspräsidentin geworden“, behauptet Krzysztof Szczerski, der Kabinettschef von Polens Präsident Andrzej Duda. Zuvor hatte die Welt berichtet, das CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak am Sonntag bei einem Geheimbesuch in Warschau bei Pis-Chef Jaroslaw Kaczyński um Stimmen geworben habe.
Auch Kanzlerin Angela Merkel soll sich eingeschaltet haben, um die Wahl ihrer Parteifreundin zu sichern. Das würde nicht nur zeigen, wie wichtig es Merkel war, dass erstmals seit 50 Jahren wieder Deutschland das mächtigste Amt in Brüssel besetzt. Der ungewöhnliche Einsatz der Kanzlerin wirft auch die Frage nach möglichen Gegenleistungen auf. Auch hier lastet der Druck vor allem auf von der Leyen.
Ihre knappe Mehrheit könnte sich noch als Fluch erweisen, der die Bildung der neuen EU-Kommission erschwert und die Zusammenarbeit mit dem Parlament belastet. Von der Leyen steht vom ersten Tag an unter großem Druck, eine Schonfrist ist ihr nicht gegönnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Habecks Ansage zur Kanzlerkandidatur
Pragmatismus am Küchentisch
Belästigung durch Hertha-BSC-Fans
Alkoholisierte Übergriffe im Zug
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk