Wolf Wondratschek über das Schreiben: „Ich bin nur der, der tippt“
Poet, Box-Fan und ein Münchner, den es nach Wien zog: Wolf Wondratschek. Hier antwortet er auf Stichworte zu Männern und Frauen, Luxus und Erfolg.
Erste Erinnerungen
Die Nachbarin, die sich im Garten nebenan nach faulen Äpfeln bückte. Meine geliebte Großmutter, die sterben wollte und lächelte. Opernarien im Radio.
Rüppurr. Karlsruhe
Ich hatte es gut, ich war mit nichts, was mich umgab, einverstanden.
Kindheit
Ich bin keinem Kampf aus dem Weg gegangen, wenn es darum ging, so wie ich es wollte auf der Welt sein zu dürfen.
Mutter-Sohn-Beziehung
Ich hatte eine Mutter ganz wie eine Mutter sein sollte: gutes Herz, mittelmäßige Köchin, hätte immer gern Zigaretten geraucht.
Vater-Sohn-Beziehung
Was tun mit einem Vater, der nicht nur mich, sondern gleich auch die anderen drei meiner Brüder für die Laufbahn des Berufssoldaten begeistern wollte?
Prozess gegen den Vater
Es war nicht schwer zu kapieren, dass es eines Gegenmittels bedurfte, und sei es ein Sprung über die Wolken, um ins Freie zu kommen. Als mir klar wurde, dass ich – ich war damals fünfzehn – den Prozess verlieren würde, stellte ich mich an die Autobahn, hielt den Daumen raus und trampte nach Paris. Ich war grausam gewesen und gleichzeitig unschuldig geblieben.
Cello
Ich hab immer noch eins.
Musik
Mir genügt meine Sprache, um Musik zu machen. Mein Atem sitzt mit an der Schreibmaschine, meine Arme und Beine auch. Ich bin nur der, der tippt.
Körpertraining
Dazu sind Körper doch da, um sie elegant in Bewegung zu halten.
Schreiben
Eine Arbeit, die Gnade des Gelingens erbittend.
Chesterfield Blue.
Kaffee
Ich mache mir inzwischen Sorgen, was meinen Kaffeekonsum angeht.
Der Schriftsteller: Geboren am 14. August 1943 im thüringischen Rudolstadt, aufgewachsen in Karlsruhe. Seine Vorfahren stammen aus Böhmen. Studium in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main (ohne Abschluss). Seit 1967 freier Schriftsteller in München („Früher begann der Tag mit einer Schußwunde“, 1969), seit Mitte der Neunziger in Wien. Er ist auch Verfasser von Hörspielen und Drehbüchern.
Aktuelles Buch: „Erde und Papier“. Herausgegeben von Claudia Marquardt. Ullstein Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten, 24 Euro
Joints
Den letzten habe ich mit einem 82-jährigen australischen Professor für Religionswissenschaft geraucht.
Lyrik
Wie kann man nur eine so schöne Sache, die man auch Poesie nennt, Lyrik nennen?
Literarisches Vorbild
Ezra Pound, Borges, Nabokov.
Schönster Satz (in der Literatur)
Es hatte inzwischen zu schneien begonnen. Noch konnte man mit dem Finger auf jede Schneeflocke deuten. Bis der Winter vorbei ist, sagte er, werde ich sie alle gezählt haben. Sie legte die letzte Karte. Die Patience war aufgegangen. Sie war ein wenig müde. Es war anstrengend, dieses nutzlose Leben. Schade, dass nicht Tschechow es war, der „Anna Karenina“ geschrieben hatte. Vielleicht hätte mich das heilen können.
Realität
Keine Ahnung, was das sein soll.
Fiktion
Fuchs und Bär waren Freunde und wateten gerade mal wieder durch einen Fluss, der das Zimmer durchquerte.
Vorwurf: Macho-Literatur
Eine Frau musste sich neulich, wie sie mir erzählte, den Wunsch, ein Buch von mir kaufen zu wollen, regelrecht erkämpfen, da die Buchhändlerin an der Kasse sie zu überzeugen versuchte, sich nicht mit Macho-Literatur abzugeben.
Literaturkritiker
Ich wünsche mir Leser, die mein Buch besser zu deuten verstehen als ich, der es geschrieben hat, es je könnte.
Boxen
Botschaften aus der Antike. Alles oder nichts. Kampf der Dritten Welt um Ehre, Respekt und Geld. Sie sind schwarz und der Dollar ist weiß.
Rituale
Mit den Menschen, die was davon verstanden, haben wir alles getötet, was uns retten könnte.
Die Ehe
Kein Bedarf.
Vatersein
Es brachte mich zum Leuchten.
Frauen
Einige haben mich geboren, einige haben mich getötet.
Männer
Wie schon Joyce sagte: Oh Scheiße mit Zwiebeln!
Schönheit
Sie ist das tiefste Geheimnis, unentschlüsselbar.
Liebe
Und die Liebe war, was sie sein sollte, ein in täglicher Anwendung erprobter Zustand größter Einfachheit.
Erotik
Der Flamme so nahe kommen, bis dich ein Freudenfeuer umgibt
Sex
In Rom hab ich dir unter den Rock gegriffen, in dieser Nacht wurden zweitausend Katzen geboren. Gut, um nicht vollends verrückt zu werden.
Prostitution
Ich reiche das Mikrofon meinem Freund Flaubert, der sich bei Dirnen noch besser auskannte. „Sie sind die losgelassene, nackte, ausschweifende und siegreiche Laune inmitten einer Welt freudloser Notare und Sachverwalter.“
Seitensprung
Nur den, um nicht von Rad- oder Autofahrern über den Haufen gefahren zu werden.
Bernd Eichinger
Wir hatten etwas gemeinsam, das nie gut gehen kann; die Liebe zu der gleichen Frau. Ging aber gut. Viele Nächte und Jahre lang
München
Die unnötigste Stadt Deutschlands.
Wien
Mit meinem böhmischen Namen ist mein Aufenthalt in dieser Stadt nicht nur logisch, sondern Heimkehr.
Mexiko
Dort hätte ich gern einige Jahre meines Lebens zugebracht, wenn ich nicht zu feige gewesen wäre, ein anderes Leben zu beginnen. Das bedaure ich. Mit dem Schmerz, versagt zu haben, muss ich klarkommen.
Geld
Geld ist gut gegen Angst, macht aber mit den Ängstlichen, was es will.
Erfolg
Nur den, der nicht erwartbar war.
Luxus
Für weniger Geld als in Wien ein Kleines Wiener Frühstück kostet stehst du im Museum vor einem Fra Angelico, Rembrandt, Dürer. Auch die Stille dort ist Luxus.
Missgunst
Sie rezensieren meine Cowboystiefel.
Feinde
Diese Tausendfüßler nehmen dir alles übel: die Frische deiner Frechheiten, dein beneidenswert geringes Körpergewicht, das Fehlen von Ehrgeiz, was ihnen wie ein an sie gerichteter Vorwurf vorkommt.
Europa
Europa braucht Morgenröte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Utopien
Aufenthalt im Gedächtnis des Glücks.
Angela Merkel
Ich habe kaum je einen Gedanken an Frau Merkel verschwendet. Sie war da, blieb da – und blieb dabei, soweit ich das sehe, die, die sie war, der Durchschnittswelt nah genug, um als Mensch wahrgenommen zu werden.
Alice Schwarzer
Ich käme nicht auf die Idee, mit ihr eine Flasche Champagner leeren zu wollen.
Ängste
In meinen glücklichen Augenblicken fühle ich mich vom Aussterben bedroht.
Schlechte Angewohnheiten
Mich auf Diskussionen einzulassen, wo ich ein Gespräch führen wollte, und mich dabei immer noch aufzuregen.
Humor
Da hab ich nicht die volle Ladung abgekriegt.
Hoffnungen
Sand wäre ich am liebsten oder, hätte ich die Wahl, ein Klumpen Erde, wenig genug, um dem Einfallsreichtum der Menschen zu entgehen.
Älterwerden
Vor dem Einschlafen ein Blick zurück auf alles, was da ist, auf alles Überflüssige.
Grabsteinspruch
Ewige Unruhe wäre mir lieber.
Gott
Ich glaube an seine Engel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um Neuwahlen
Inhaltsleeres Termingerangel
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Überwachtes Einkaufen in Hamburg
Abgescannt
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
Obergrenze für Imbissbuden in Heilbronn
Kein Döner ist illegal