Historisches Fußballspiel: Eine Kosmonautin zum Anfassen
Im Oktober 1963 gab es einen großen Moment, in dem sich Weltall, Erde, Mensch auf einem Fußballfeld in Ostberlin trafen. Eine Spurensuche.
Irgendwo im verbarrikadierten BND-Komplex, der für ungefähr eine Milliarde Euro und damit zum Preis von knapp fünf Neymars als Betonmachwerk in die Mitte von Berlin geklotzt wurde, befindet sich ein Stückchen fußballhistorischer Untergrund. Dort, wo 4.000 Geheimdienstmitarbeiter der Bundesrepublik Deutschland ihrem Job im Verborgenen nachgehen, stand einst das größte Fußballstadion der Hauptstadt der DDR: 1950 war es, als Walter-Ulbricht-Stadion eröffnet worden, zu Ehren des damaligen Partei- und Staatschefs. Später hieß es Stadion der Weltjugend.
In ihm fanden legendäre Momente der deutschen Fußballgeschichte statt, nicht nur der ostdeutschen. So gab es hier 1951 das erste von zwei „Aussöhnungsduellen“ zwischen dem West- und dem Ostberliner Fußballverband und 1959 ein Geister(hin)spiel zwischen der DDR-Nationalelf und einer westdeutschen Amateurauswahl um den Titel des offiziellen deutschen Teams beim Olympiaturnier in Tokio 1960. Ob letzteres Spiel durch seinen Status „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ die Idee für die heutige Standortbestimmung lieferte, ist nicht bekannt.
Verbürgt ist jedoch, dass viele Spiele vor Zehntausenden Zuschauern zu den spektakulärsten in der DDR gehörten. Hier gelangen dem 1. FC Union Sensationssiege in den Oberligaderbys gegen den BFC Dynamo, und ältere Fans aus dem sonstigen ostdeutschen Raum werden sich an grandiose Momente ihrer Vereinsgeschichte erinnern, weil hier traditionell die FDGB-Pokalendspiele stattfanden. Für Fanlaberstoff hat der Ort, der als Fußballschauplatz durch den Abriss 1992 in der Versenkung verschwand, also reichlich gesorgt.
Einmal aber gab es hier auch einen großen, wahrscheinlich sogar den größten Moment, in dem sich „Weltall, Erde, Mensch“ [so hieß ein DDR-Buch, das 1954–74 zur Jugendweihe obligatorisch verschenkt wurde; Anm. d. Red.] auf einem Fußballfeld trafen. Ein einmaliges Ereignis, auf das keine Gedenktafel am BND-Raumschiff hinweist, obwohl der Geheimdienst mit hoher Wahrscheinlichkeit – in Person eines stillen Beobachters – Teil des Geschehens war. Schließlich gehörte der BND zu den verdeckten Playern im Kalten Krieg zwischen Ost und West vor dem Mauerfall.
Welches ist das bessere System?
Würde es eine Gedenktafel auf dem BND-Areal geben, könnte darauf stehen: An diesem Punkt vollführte Walentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltall, am 19. Oktober 1963 vor 70.000 Zuschauern den (Ehren-)Anstoß zum Länderspiel DDR-Ungarn.
Als Fußnote ließe sich ergänzen, dass sie damit auch für die Sowjetunion den Ball an die Amerikaner zurückgespielt hat im damaligen Propagandawettkampf, der vor allem im geteilten Berlin über die Bühne ging. Die Stadt galt wegen ihrer unterschiedlichen Systemzugehörigkeiten als Frontstadt, weshalb US-Präsident John F. Kennedy bei seinem Westberlin-Besuch im Juni 1963 klare Ansagen Richtung Osten machte. Bei einer Massenkundgebung vor dem Rathaus Schönberg versetzte er Zehntausende Zuhörer mit seinem Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“ in Ekstase.
Dass er wie ein Popstar gefeiert wurde, gefiel den Herrschenden auf der anderen Mauerseite gar nicht. Im Kalten Krieg – der immer auch ein heißer Krieg um die Köpfe und Herzen der Menschen war – wollten sie dem etwas entgegensetzen. Also schickten die Sowjets kurz darauf die einzigen echten Popstars, die sie hatten, nach Ostberlin: ihre Kosmonauten Juri Gagarin und Walentina Tereschkowa.
Gagarin war 1961 als erster Mensch ins Weltall geflogen, Tereschkowa hatte im Juni 1963 als erste Frau die Erde umkreist, fast zur selben Zeit, zu der Kennedy seine umjubelte Rede in Westberlin hielt. Die Eroberung des Alls gehörte in den sechziger Jahren zum Wettkampf der Systeme, sie war das aufregendste und für die Menschheit reizvollste Treiben in diesem Wettrennen. Weil die Helden der jungen Raumfahrt – im Westen Astronauten, im Osten Kosmonauten genannt –, die Massen elektrisierten, wurden sie als Repräsentanten des vermeintlich besseren Systems nur allzu gern in Szene gesetzt.
Lebender Beweis für Gleichberechtigung
Unmittelbar nach ihrem dreitägigen Flug mit dem Raumschiff „Wostok 6“, in dem Tereschkowa den Funknamen „Möwe“ trug, wurde sie zusammen mit Gagarin auf Schautournee geschickt. In Ostberlin geriet sie dabei zum Hauptact eines Programms, das die Kennedy-Show in Westberlin in den Schatten stellen sollte.
Tatsächlich erwies sich die 26-jährige Kosmonautin als äußert charmante Person mit reichlich Pop-Appeal. Am Rednerpult präsentierte sich die gelernte Textilarbeiterin als lebender Beweis für die Gleichberechtigung der Frau im Sozialismus, auf der Showbühne wiederum als Top-Entertainerin: In Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) sorgte sie als beschwingte Dirigentin einer Big Band für Begeisterung und Schunkelstärke acht im Saal.
„Oh ja,“, sagt Werner Heine, „das war nicht so eine steife Russin, wie mancher vorher vielleicht dachte. Die war aufgeweckt, sympathisch und eine attraktive Erscheinung mit Ausstrahlung. Alle wollten sie fotografieren.“ Der 84-Jährige kann sich beim Gespräch in einem Café am Straußberger Platz bestens an Walja, wie die Russin von ihren Bewunderern liebevoll genannt wurde, erinnern.
Als Kapitän der DDR-Fußballnationalelf durfte der damals 28-Jährige sie beim Länderspiel gegen Ungarn zum Anstoßpunkt geleiten. Für ihn ein sehr spezieller Karrieremoment, der einen großen Vorläufermoment der Fußballpopgeschichte hatte: den Ehrenanstoß von Hollywood-Ikone Marilyn Monroe für das Spiel Israel gegen USA 1957.
Großes Spektakel mit viel Bohei
Ob die Ostberliner Eventorganisatoren die Idee abgekupfert haben, ist nicht bekannt. Werner Heine hatte von der Monroe-Aktion jedenfalls nie gehört. „In der DDR gab es so einen Starrummel ja nicht. In diesem Fall mit Tereschkowa zeigten sich die Leute ehrlich begeistert, weil es mal was anderes war als ein Waffenaufmarsch. Hier wurde ein lebendiger Mensch gezeigt, der eine außergewöhnliche Situation im Weltraum erlebt und überstanden hatte.“ Trotzdem hatte der Abwehrspieler, der als junger Kicker aus der DDR-Provinz zu Dynamo Berlin gekommen war, eigentlich keinen Sinn für das Bohei. Es störte nur seine Konzentration auf das wichtige EM-Qualifikationsmatch gegen die favorisierten Ungarn.
Zum großen Spektakel gehörte, dass es von der kompletten DDR-Politprominenz inklusive Staatschef Ulbricht sowie Kosmonaut Gagarin von der Ehrentribüne verfolgt wurde. Und natürlich von zahlreichen Fernsehkameras, die Werner Heine ins Bild setzten, als er nach dem Ausklingen der Nationalhymne mit einem DDR-Wimpel und einem Blumenstrauß in der Hand die schöne Walja – lange Hose, kurzärmeliger Pullover – an den Spielfeldmittelpunkt führte, wo die Fotografen lauerten.
Dort legte der ungarische Kapitän Gabor Sandor seinen Arm um die Berühmtheit und schob sie zwischen sich und Werner Heine, worauf Walentina Tereschkowa, wie in Filmaufnahmen zu sehen ist, ziemlich beängstigt auf die Reporterschar blickte, die wild um sie flatterte.
„Im Angesicht der Meute sah sie doch etwas hilflos aus“, erzählt Fotograf Peter Leske 56 Jahre später in seiner Wohnung in Schöneiche bei Berlin. Er hatte sich damals mit seiner Praktisix-Kamera von der Traube ferngehalten und Tereschkowas konsternierten Blick verewigt. Aber auch, wie sie gleich darauf lächelte. „Sie sah dabei so hübsch aus. Die ganzen Kerle hatten sich ja in sie verknallt. Sie war ein Idol, dabei ganz echt und nicht aufgesetzt.“
Die DDR hat verloren
Nachdem sie noch fix mit dem Schiedsrichter geschäkert hatte, klappte es im vierten Anlauf auch mit dem symbolischen Anstoß. Kurz und trocken schießt sie den Ball aus dem Stand, dreht sich um und läuft davon, runter vom Platz. Dann wird das Spiel richtig angepfiffen und von der DDR-Elf 1:2 verloren.
Was den damals Mittzwanziger Peter Leske jedoch nicht interessierte. „Das Spiel habe ich mir nicht angesehen. Ich war ja kein Fußballfan. Für Walja und mich war so ein Fußballspiel etwas völlig Neues“, sagt er lachend. Leskes Faible galt der Leichtathletik, als Student in Jena war er sogar ein ambitionierter Läufer; Fußball spielte in seinem Leben keine Rolle. Der Einsatz als Fotoreporter im Walter-Ulbricht-Stadion war überhaupt der erste bei einem Fußballspiel.
Dazu gekommen war er auch nur, weil er Walentina Tereschkowa im Auftrag der DDR-Frauenzeitschrift Für Dich schon zuvor begleitet hatte. Als er zufällig in Moskau auf dem Roten Platz war, als die Sensationsmeldung von ihrem Flug kam, machte er von den euphorischen Passanten ein später preisgekröntes Foto. Es markiert die Faszination des Augenblicks ebenso wie die Aufnahme von der verunsicherten Showkickerin Tereschkowa.
„Ich wollte nie Nachrichtenfotos machen, sondern immer eine Geschichte erzählen, die eines Beobachters. Deshalb habe ich mich auch aus der Fotografentraube herausbewegt, weil mich nicht der Ball an ihrem Fuß interessiert hat, sondern die Gesamtsituation. Im Grunde war ich der Außenseiter, habe aber wahrscheinlich das originellste Foto gemacht.“ Kann man so sagen.Und trotzdem ordnet Peter Leske das Ereignis und sein historisches Foto für sich als eine absolute und eher ulkige Randgeschichte ein. „Ich will das nicht künstlich hochpuschen.“
Werner Heine, Fußballer
Für den Fußballer Werner Heine ist das Erlebnis aus einem anderen Grund nicht der euphorischen Erinnerung wert: „Das Spiel war für mich doch wichtiger als der historische Moment. Natürlich, auch mich hatte die Raumfahrt interessiert und zum Teil begeistert, aber der Fußball stand für mich immer im Vordergrund. Die Ungarn waren damals eine große Nummer im Weltfußball, und die Anwesenheit von Tereschkowa hat vieles überstrahlt. Vor allem hat mich die Niederlage gewurmt, denn letztlich bedeutete die unser Ausscheiden in der Quali. Drei Wochen später haben wir nämlich in Budapest 3:3 gespielt, wobei wir vom Schiri auch noch ein bisschen verladen wurden.“
IN FÜNF SCHRITTEN ZUM MOND – eine etwas andere Chronologie von Thomas Mauch
Frau im Mond
Der Countdown zu jedem Flug zum Mond beginnt mit dem Film „Frau im Mond“, in dem Fritz Lang nicht nur eine Rakete auf den Mond schickte, sondern auch das Rückwärtszählen auf null zum Start erfand. Im Bild ist das mit den Zahlen zu sehen: Der 1929 ins Kino gekommene und in der UFA-Traumfabrik in Potsdam gedrehte Film war noch ein stummer. Auf dem Mond treiben die Menschen dann übrigens die gleichen Dinge um wie in den Erdniederungen – die Gier nach Geld (Mondgold) und die Liebe (schmerzlich). Der Vorschein von Langs Science-Fiction: Die Filmrakete ähnelt im Aussehen sehr der späteren V2-Rakete der Nazis.
Tests im Tiergarten
Mit dieser V-Waffe (V wie Vergeltung in zynischer Nazi-Spreche) beschäftigte sich federführend Wernher von Braun, erst deutscher und später US-amerikanischer Raketeningenieur. Als 13-Jähriger experimentierte von Braun bereits mit Feuerwerksraketen im Tiergarten, später mit größeren Dingern auf dem Raketenflugplatz Berlin in Reinickendorf. Nach der Großrakete V2 – die statt zu Mondflügen zum Bombardement etwa von London eingesetzt wurde – beschäftigte sich von Braun bei der Nasa mit der Rakete, die den Menschen zum Mond bringen sollte.
Hund im Weltall
Ab den Fünfzigern ging es dann Schlag auf Schlag. Wobei man sich im Westen beim Wettlauf ins All doch sehr wunderte, dass die ersten Schläge allesamt von der Sowjetunion gestartet wurden, die im Westen eigentlich als vollkommen rückständig betrachtet wurde. Und dann begann da am 4. Oktober 1957 mit dem Satelliten Sputnik das Zeitalter der Raumfahrt, im November 1957 folgte mit Laika, einem von den Straßen Moskaus aufgelesenen Köter, das erste Lebewesen im All (das sein Leben bei der Mission auch gleich verlor), schließlich im April 1961 Juri Gagarin als erster Mensch im Weltall. Er kehrte auf die Erde zurück und schaute sich 1963 zum Beispiel auch ein Fußballspiel in Ostberlin an (siehe oben).
Doch mal ein Lied
Eigentlich hängt der Mensch seine Sehnsüchte gern zwischen Sonne, Mond und Sterne. Die Raumfahrt aber zählt kaum zur Kernkompetenz der Sehnsuchtsmaschine Pop. Nur vereinzelte Verweise: Dem Namen nach die Sputniks, eine Beatband in den Sechzigern aus Ostberlin. Und natürlich „Space Oddity“, der Weltraumhit schlechthin, den der spätere Parttime-Berliner David Bowie am 11. Juli 1969 veröffentlichte, mit dem hilflos im All treibenden Major Tom.
Mann im Mond
Am 21. Juli 1969 – vor 50 Jahren – betrat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond und teilte mit: „Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit.“ Was man halt so sagt, wenn man den Mond betritt.
Hinweis: Diese Texte sind Teil eines dreiseitigen Schwerpunktes in der Printausgabe der taz berlin am wochenende vom 13./14. Juli 2019.
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