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„Tatort“ aus StuttgartDie bittere Wahrheit ist splitternackt

Diese Tatort-Folge wird das Jahr überdauern, so irre gut ist sie. Die Themen: Pflegekräfte, Alleinerziehende und geringe Wertschätzung.

Maria Baumbauer (Lina Wendel) leitet einen ambulanten Altenpflegedienst und ist Annes Chefin Foto: SWR/Maor Waisburd

Pflegefall, tot. Zwei Wochen später: noch ein Pflegefall tot. Sagt die Ärztin, die vor Ort ist: Bei allen über 75 sollte man auf den Totenschein schreiben: „Isch halt dod. ’s Läbe goht halt net ewig, ge.“

Und beides Mal war Anne vorher da. Eine der Pflegerinnen, die den ganzen Tag in Stuttgart hügelauf, hügelab von einem Alten zum nächsten fährt. Um sie zu waschen, ihnen Tabletten zu geben, „vier Minuten zum Kämmen und Rasieren“.

Jetzt sitzt Anne im Verhörzimmer der Stuttgarter Polizei und sagt erst mal ihrer Chefin und ihrem Sohn Bescheid, Magen-Darm hier, Doppelschicht da, das muss reichen für ihre Abwesenheit.

Zu den Kommissaren Bootz (Felix Klare) und Lannert (Richy Müller) sagt sie: „Das ist doch alles ein riesengroßes Missverständnis!“. Katharina Marie Schubert spielt diese Anne mit einer derart unschuldigen Mischung aus amüsierter Verblüffung und Ernsthaftigkeit gegenüber den Mordvorwürfen, dass man schon jetzt sagen kann: Diese Folge wird das Jahr überdauern, so irre gut ist sie. Beide sind so gut, die Schubert und die ganze „Tatort“-Folge (dass sie schon vor der Ausstrahlung mit dem Baden-Württembergischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, ist gaga, aber konsequent).

Grandiose Konstruktion

Der Krimi

„Anne und der Tod“, ARD, Sonntag 20.15 Uhr

Nicht nur, weil der Film gleich zwei gesellschaftliche Themen in den Vordergrund schiebt, die vor Überlastung ächzen: Wie unheilvoll verkettet die Lebensbedingungen sein können, wenn eine Frau, alleinerziehend, beim mobilen Pflegedienst arbeitet, das Geld reicht hinten und vorne nicht. Pflegekräfte, Alleinerziehende, die geringe Wertschätzung ist himmelschreiend.

Was diese Folge aber heraushebt aus der Masse, ist ihre Konstruktion. Und die ist dank des „Tatort“- und „Polizeiruf“-Dauerautors Wolfgang Stauch und des gemessen an seiner spärlichen Regieliste noch relativ frischen Absolventen Jens Wischnewski grandios: Zwischen die Kammerspielmomente im Verhörraum rutschen Rückblenden. Befragungsfetzen mit der Ärztin, mit der Witwe, dem Sohn, der Chefin.

Die Ebenen sind argumentativ geschnitten, auf ein Indiz folgt ein Gegenbeweis, eine stichhaltige Erklärung, die alles entkräftet (Cutterin Barbara Brückner verdient einen Extrapreis dafür). Es fehlte Geld? Heimliche Einkäufe für die Alten, Schnaps, Pralinen, Blutwurst. Anne hatte auf einmal viel Kohle? Kam vom geheimen Kindsvater, hier, kein Ding, sie ruft ihn an.

Dann kreisen Bootz und Lannert die Motive ein. Und am Ende steht sie splitternackt da, die bittere Wahrheit.

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6 Kommentare

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  • Ja da reibt man sich verwundert die TV-Augen. Der Südwestrundfunk (SWR), sonst eher für's Betuliche und Heimelige bekannt, ist bei den Stuttgart-Tatorten mutig und innovativ. Während die anderen Tatorte aus dem Ländle zunehmend zur Spielwiese eitler Selbstdarstellerinnen wurden (Bodensee, Ludwigshafen, Freiburg), beweisen die Stuttgarter Tatorte, dass es auch anders geht. Zuförderst zu loben ist das Drehbuch, dass das realexistierende Elend der kalten Gesellschaft aufzeigt. Regie und Kamera tun ein Übriges dazu und die Schauspielerische Leistung von Frau Schubert ist mehr als überzeugend. Mal seh'n, ob für diese Folge ein Grimme-Preis abfällt. Dem SWR ist nur zu raten: Weiter so!

  • Da können sich die vielgefeierten amerikanischen Serienmacher aus dem werbefinanzierten Doof-TV mal abschauen, wie man mit der Darstellung des Kampfes durch die Niederungen des Lebens großes, weil berührend und beschämend, Kino machen kann.

  • Bester Satz von 'Lannert':



    "Sie sind auf dem Weg zur Kirche falsch abgebogen - ich weiß nur noch nicht wo genau ." -

    Trifft das nicht immer wieder für fast alle Menschen zu?

    • @Joe Brother i.a.:

      "Trifft das nicht immer wieder für fast alle Menschen zu?"



      Das tut es.



      Das entschuldigt aber keinen Mord, nicht einmal den gezeigten.



      Wäre unsere Gesellschaft nicht prüde und so ·s c h a m l o s· bereit zu mobben, was nicht ins Schema "F" passt, könnte es in D besser aussehen…



      Haltung und Überleben – schwer zu vereinbaren. Das Geheimnis:



      - unverdrossen daran arbeiten



      - Meinung haben



      - lernen, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen.



      "Systemfrage?"



      "Wegen eines Krimis?"



      "Warum nicht?!"

      • @Frau Kirschgrün:

        Einverstanden, Frau Kirschgrün. Es ging mir auch keinesfalls darum einen Mord, mit seinen niedrigen Beweggründen, dem Vertrauensmissbrauch etc. zu entschuldigen. Doch ein Quäntchen Bewusstheit für eigenes falsches Abbiegen und auch die Zufälle, die ein solches verhinderten, neutralisiert etwas vom süßen Gift des eigenen moralischen Überlegenheitsgefühls. Und das könnte hilfreich sein für den Umgang mit Versagen. Dem der Anderen und dem eigenen.

  • Frau Anne Haeming, Ihrem Artikel ist nichts hinzuzufügen.



    So spannend kann ein Krimi mit (fast) bekannter Täter *in sein.



    Der fast aussichtlos erscheinende Kampf sie zu überführen.



    Die Schnitte – einfach genial.



    Durch die Verschachtelung durchgehend spannend und nicht eine Sekunde verwirrend – bis zum bitteren Ende: lieber Mörder*in als unerträglicher Scham in einem unerträglichen Beruf ausgesetzt.