piwik no script img

30 Jahre IntersektionalitätDem Ungetüm begegnen

Kimberlé Crenshaw hat den Begriff Intersektionalität für überlappende Diskriminierungen eingeführt. Im Alltag angekommen ist er noch nicht.

Im Englischen heißt die Straßenkreuzung „Intersection“, deshalb: Intersectionality Foto: Unsplash/Denys Nevozhai

Es ist ein dermaßen sperriger Begriff, dass es eigentlich nicht wundert, wenn Menschen, die nicht direkt Betroffene sind, eine echte Auseinandersetzung mit ihr scheuen: mit der Intersektionalität. Akademiker-Identitätspolitik-Gedöns von Critical-Whiteness-Fanatikern, heißt es dann schnell oder eben gleich – höhö – Inter-sekt(en)-tionalität.

Dabei ist Intersektionalität etwas durch und durch Gelebtes, etwas konstant Erfahrenes, etwas, das es schon immer gab, das aber bis 1989 schlicht keinen Namen hatte. Klar, man hätte es auch Herbert nennen können, das wäre vielleicht zugänglicher.

Aber die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hatte bei der Benennung das Bild einer Straßenkreuzung im Sinn, an der sich Machtwege kreuzen, sich überlagern, womit sie soziale Ungleichheit und ihre Vielschichtigkeit darstellen wollte. Im Englischen heißt die Straßenkreuzung „Intersection“, deshalb: Intersectionality. Im Deutschen ist das weitaus schwieriger.

„Kreuzität“ wäre ein jedenfalls gewöhnungsbedürftiges Wort – und, wie eine taz-Kollegin letztens bei einer Konferenz richtig sagte: Kreuzigung war halt schon vergeben. Deshalb also: Intersektionalität.

Schwarze Frauen kamen für Jobs nicht infrage

So weit zum Namen, nun zum Leben: Ein Fall, mit dem auch Crenshaw, die heute Juraprofessorin und Präsidentin des Center for Intersectional Justice in Berlin ist, seit 30 Jahren in ihren Reden gerne veranschaulicht, was mit Intersektionalität gemeint ist, das ist der Fall Emma DeGraffenreid.

DeGraffenreid hat 1976 in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri gemeinsam mit vier anderen Schwarzen Frauen ihren früheren Arbeitgeber General Motors wegen Diskriminierung verklagt. Die Frauen wurden 1974 betriebsbedingt entlassen. Die Auswahl fiel auf sie, weil sie zu dem Zeitpunkt die kürzeste Betriebszugehörigkeit aufwiesen. DeGraffenreid etwa wurde 1973 eingestellt. Doch sie hatte sich bereits zuvor, im Jahr 1968, beworben und wurde abgelehnt. Ähnlich ging es den anderen Frauen.

Sie beklagten, dass es bei General Motors lange Praxis gewesen sei, für gewisse Jobs nur Männer einzustellen, etwa in der Fabrik, und für andere Jobs nur Frauen, etwa im Sekretariat. Darüber hinaus machten die Klägerinnen aber die Beobachtung, dass für die „Männerjobs“ zwar auch Schwarze Männer eingestellt wurden, für die „Frauenjobs“ aber nur weiße Frauen. Schwarze Frauen kamen also lange für keine der Jobkategorien in Frage.

Bis 1970 habe es in der ganzen Niederlassung in St. Louis deshalb nur eine Afroamerikanerin gegeben, die war Hausmeisterin. Die Klägerinnen argumentierten, dass sie, wäre das nicht so lange die Praxis gewesen, schon viel früher beim Unternehmen hätten arbeiten können, wodurch sie wiederum bei den Stellenkürzungen nicht entlassen worden wären.

Crenshaw erforschte das Loch im System

Das Gericht lehnte die Klage ab. Nicht etwa weil es die Argumentation für gewagt hielt, sondern weil es schlicht nicht anerkennen wollte, dass Menschen wegen Hautfarbe und Geschlecht gleichzeitig diskriminiert werden konnten. So hieß es damals, die Frauen müssten sich entscheiden, ob sie gegen die Diskriminierung nach Hautfarbe oder Geschlecht vorgehen wollten – eine Kombination von beidem sei nicht möglich.

Da die Schwarzen Männer aber ein Beleg dafür gewesen wären, dass General Motors nicht nach Hautfarbe diskriminierte und die weiblichen Angestellten ein Beweis dafür, dass kein offensichtlicher Sexismus in der Einstellungspolitik herrschte, hatten die fünf Frauen keine Chance.

Schwarze Frauen machen also Diskriminierungserfahrungen, die weder Schwarze Männer noch weiße Frauen nachvollziehen können. Eine, die das sehen konnte, war Kimberlé Crenshaw. Sie machte es sich 1989 deshalb zur Aufgabe, herauszufinden, wie ein so großes Loch in einem juristischen System klaffen konnte, das sich mit dem Civil Rights Act von 1964 doch bereits ein Gesetz verordnet hatte, mit dem marginalisierte Menschen als Arbeitnehmer vor Diskriminierung nach „race, color, religion, sex and national origin“ geschützt werden sollten. Sie wollte nicht hinnehmen, dass Schwarze Frauen und Women of Color mit dieser Diskriminierung im Quadrat alleingelassen werden.

Diskriminierungsformen verschmelzen

Was Crenshaw tat, war denkbar klein, und was sie damit bewirken würde, war damals wohl kaum vorhersehbar. Sie schrieb einen Essay und gab dem Ding einen Namen, der heute – zumindest bei Betroffenen – weltweit bekannt ist. Ihr Ansatz war, wie sie es heute in ihren Reden zum Thema auch gerne beschreibt, dass der Mensch Frames, also Rahmen, braucht, in denen er denkt.

Denn was in keinen Rahmen passt, existiert nicht – so hatte es das Gericht ja vorgemacht. Sie schuf also den Rahmen, in dem eine mehrfache Diskriminierung gesehen werden kann, die so ineinander verwoben ist, dass sie eine neue Form ergibt. Es sind nicht einfach zwei (oder mehr) Diskriminierungsformen, die beide nebeneinander erlebt werden, sie verschmelzen und ergeben ein neues Ungetüm.

Es waren in erster Linie Schwarze Frauen, die den Begriff der Intersektionalität in die Welt getragen haben, auch, um den weißen Feminismus zu kritisieren. Aber es sind eine Menge Menschen davon betroffen. Zu Beginn ging man vor allem von drei sich kreuzenden und sich überlappenden Diskriminierungsformen aus: Rassismus, Sexismus, Klassismus.

Dazu kamen später noch: Ageism, Homophobie, Xenophobie, Ableismus und Transphobie. Es gibt aber auch Kritiker_innen, die eine längere Liste befürworten. Ebenso wird das Bild der Straßenkreuzung heute kritisiert, weil es nicht deutlich machte, dass die einzelnen Machtstränge nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.

Immer noch kein Konsens

Jetzt ist das hier aber natürlich nicht die Diskriminierungsolympiade. Denn eigentlich geht es darum, zu verstehen, dass Intersektionalität kein Ding ist, kein Zustand, sondern eine Art und Weise, Dinge analysieren zu können.

Die Fähigkeit, zu sehen und nachzuvollziehen, dass eine Frau ohne Kopftuch andere Diskriminierungserfahrungen macht als eine Frau mit Kopftuch. Ein 22-jähriger Homosexueller andere Erfahrungen macht als ein 70-jähriger Homosexueller. Eine reiche Schwarze Cis-Frau anders behandelt wird als eine mittellose Schwarze Transfrau. Ein Mann mit Behinderung, der Arbeit und Familie hat, anders benachteiligt wird, als eine obdachlose Frau mit ­Behinderung. Und eine Person of ­Color aus einem prominenten Elternhaus in Deutschland andere Ressourcen und andere Chancen zur Verfügung hat als eine Person of Color mit einer alleinerziehenden Mutter, die Hartz IV bezieht.

Klingt bis dahin alles nachvollziehbar, oder? Dennoch ist es in einem linken Spektrum auch heute, 30 Jahre nach Crenshaws Essay, immer noch kein Konsens, dass man Diskriminierung von Menschen nur ganzheitlich bekämpfen kann, wenn man Privilegien erkennt und benennt – und zwar vor allem die eigenen.

Das Missverständnis, wenn es um Privilegien geht, liegt ja darin, dass ihre Benennung verwechselt wird mit dem Vorwurf, man habe alles geschenkt bekommen: Vor allem in einer deutschen Kultur, in der Fleiß und harte Arbeitsmoral als vermeintlich erstrebenswerte Charakterzüge gelten, erzeugt das prompt einen Widerstand, der oft jedes weitere Gespräch unmöglich macht.

Intersektionalität und Privilegien erkennen

Dabei gibt es zweierlei Privilegien, die einen, die man von Geburt an hat – und die anderen, die man sich im Laufe eines Lebens erarbeiten oder auch verlieren kann. Dies sowie den direkten Zusammenhang mit Intersektionalität zu erkennen, könnte viele gesellschaftliche Debatten voranbringen.

Wenn etwa Konsens wäre, dass – nur weil ein in vielerlei Hinsicht privilegierter Schwarzer Mann für acht Jahre Präsident der Vereinigten Staaten war – deswegen nicht automatisch alle anderen Schwarzen Menschen keinen Rassismus mehr erfahren; genauso wenig wie, nur weil eine in vielerlei Hinsicht privilegierte Frau aus dem Osten schon sehr lange deutsche Bundeskanzlerin ist, die Diskriminierung von Frauen aus dem Osten nun generell aufgehört hätte.

Oder aber auch, dass es nicht funktionieren wird, erst die Armut und dann den Rassismus zu bekämpfen, weil es da eine intersektionelle Schnittmenge von Menschen gibt, die es sich nicht leisten kann, dass ein großer Teil ihrer Lebensrealität einfach mal auf später verschoben wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Vielen Dank für den wunderbaren Artikel! Ein kleiner Hinweis nur: im Statement der Combahee River Collective heißt es bereits "that the major systems of oppression are interlocking". Das Statement wurde bereits 1977 veröffentlicht, soweit ich weiß. Ich finde es immer so schade, dass die CRC im Zusammenhang mit dem Konzept der Intersektionalität häufig (sicher nicht mit böser Absicht) vergessen wird. Hier ein Link auf das Statement für alle Menschen, die es interessiert: circuitous.org/scraps/combahee.html

  • Dieses Victim Scoring versucht ja einfach nur die Widersprüche aus den bisherigen Ansätzen zu nehmen. Es erhält aber die falschen deterministischen Opferzuschreibungen.

  • "dass es nicht funktionieren wird, erst die Armut und dann den Rassismus zu bekämpfen" bedeutet nicht dass es funktionieren wird nur den rassismus und statt der armut die armen zu bekämpfen,wie es die antirassist*innen unter den neoliberalen tun beziehungsweise zu tun versuchen .im übrigen ist armut die ursache dafür dass sich menschen auch gegen diskriminierungen die scheinbar oder wirklich nichts mit ihrer armut zu tun haben nicht oder nicht erfolgreich wehren können



    soziale ungerechtigkeit soziale unsicherheit und soziale ungleichheit sind strukturelle gewalt.nimmt die strukturelle gewalt zu so nehmen erfahrungsgemäss auch alle diskriminierungen und ressentiments zu



    an demonstrationen gegen rassismus nehmen zuviele teil die mit daran schuld sind dass der rassismus zunimmt.darum sollten neoliberale von der teilnahme an solchen demonstrationen ausgeschlossen werden.



    neoliberale gibt es in der fdp der afd,den unionsparteien der spd in grosser viel zu grosser zahl und auch in der grünen partei und sogar in der linken gibt es einige-zum glück nicht besonders viele die neoliberale ideologie verbreiten .je mehr neoliberale es in einer partei gibt desto reaktionärer ist sie.

    vor allem wegen der neoliberalen ,aber nicht nur wegen ihnen sondern auch wegen den rechtspopulisten ist freiheit heute ein viel missbrauchtes wort..

    zuweilen ekelt es mich an ,wenn Ich dieses wort höre.auf die freiheit berufen sich kapitalistische ausbeuter*innen und unterdrücker*innen,imperialistische agrressor*innen , nationalist*innen , rassist*innen , umweltzerstörer*innen Tierquäler*innen etc.



    alle die schlechtes tun und die freiheit missbrauchen wollen missbrauchen zuerst ihren namen.

    und dass ist nichts neues:



    im hinblick auf die liberalen gegner der abschaffung von sklavenhandel und sklaverei hat schon der britische konservative Dr.Johnson treffend gesagt:



    "Es ist seltsam ,dass immer die schlimmsten Sklaventreiber am lautesten nach freiheit kläffen"

  • 0G
    05654 (Profil gelöscht)

    Guter Artikel & Nettes Wortspiel mit der `Kreuzität´bzw. Intersektionalität - Was letztendlich jedoch alles auf den Begriff Diskriminierung hinausläuft .

    Das Diskriminierungsverbot, auch Benachteiligungsverbot, untersagt, Menschen wegen bestimmter Merkmale ungleich zu behandeln, wenn dies zu einer Diskriminierung, also einer Benachteiligung oder Herabwürdigung einzelner führt, ohne dass es dafür eine sachliche Rechtfertigung gibt. Insbesondere dürfen weder Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt noch der sonstige Status als Unterscheidungsmerkmale herangezogen werden.

    Das Diskriminierungsverbot beschreibt das in Deutschland mehrfach gesetzlich geregelte Verbot, gegenüber anderen Personen oder Einrichtungen ein diese benachteiligendes Verhalten auszuüben . Im Kern wird dieses Gebot aus Artikel 3 des Grundgesetzes abgeleitet und gilt u.a. für Staatshandeln.

    Die europäische Menschenrechtskonvention enthält in Art. 14 ein Diskriminierungsverbot.