Schweden meiden Flüge: Auf Schiene verreisen – oder gar nicht
Viele NordeuropäerInnen haben wegen des Klimas „Flugscham“: Sie bleiben beim Reisen auf dem Boden. Bahnfahren wird immer beliebter.
SVT musste akzeptieren, dass er nicht nur die 800 Kilometer von seinem nordschwedischen Wohnort zum Studio in Stockholm, sondern auch seine Reisen zu den Wettkampfstätten in Italien, Slowenien oder Norwegen mit der Bahn zurücklegen wird. Es werden mindestens 13.000 Kilometer auf der Schiene werden. „Hätten sie Nein gesagt, hätte ich das nicht gemacht“, sagt Ferry.
Er hat nicht etwa Flugangst. Ferry geht es ums Klima. Seit zwei Jahren ist niemand in der Familie mehr geflogen. Seine Ehefrau Heidi Andersson, elffache Weltmeisterin im Armwrestling, und er wollen spätestens 2025 „fossilfrei“ leben: „Fliegen ist da nicht mehr drin. Jedenfalls solange es keine Elektroflugzeuge gibt.“ Statt zwei Stunden dauere eine Reise von Lappland in die Alpen dann eben zwei Tage: „Aber das meiste lässt sich mit Nachtzügen machen, und ein paar Stunden Aufenthalt in Hamburg sind kein Problem, da gibt es ja gutes Bier.“
Die SchwedInnen gehören zu den Vielfliegern. Sie fliegen siebenmal mehr als durchschnittliche Erdenbewohner. Ist der gesamte CO2-Ausstoss des Landes seit 1990 um 24 Prozent gesunken, wuchs der vom Flugverkehr um 61 Prozent an. Doch in den Medien häuften sich in den letzten Monaten Beiträge wie die des Kulturchefs der Tageszeitung „Expressen“, der den „idiotischen Lebensstil“ des Vielfliegens als „teuersten Selbstmord der Weltgeschichte“ anprangerte. ForscherInnen und KünstlerInnen meldeten sich zu Wort: Fliegen sei für sie nun keine Alternative mehr. Aufträge, die Flugreisen zwingend machten, lehne man in Zukunft einfach ab.
Bahn merkt die Flugscham der Schweden
Die Alarmmeldungen, dass es mit der Fliegerei so nicht weitergehen kann, zeigen offenbar langsam Wirkung. Einer Facebook-Gruppe, in der Tips über Bahnfernreisen ausgetauscht werden, traten binnen weniger Monate 30.000 Menschen bei. Geschäftsleute und ÄrztInnen berichten begeistert von für sie ganz neuen Erfahrungen: Ja, doch, man könne tatsächlich zu Terminen in London und Frankfurt oder Tagungen in Genf mit der Bahn reisen. Im Mai absolvierte Kultusministerin Alice Bah Kuhnke offizielle Besuche in Paris, Cannes und Berlin per Bahn. Von der Linkspartei bis zu den Konservativen meldeten sich PolitikerInnen zu Wort: Soweit es nur gehe, würden sie aufs Fliegen verzichten.
Der Hashtag #flyingless bekam seine schwedische Entsprechung im #jagstannarpåmarken: „Ich bleib auf dem Boden“. Es ist eine regelrechte Bewegung entstanden, für die sich auch ein neuer Begriff eingebürgert hat: „flygskam“, sich wegen seiner Flugreisen schämen. Er hat gute Aussichten, Wort des Jahres 2018 zu werden.
Bei SJ, der schwedischen Bahn, merkt man das. Die Belegung der innerschwedischen Nachtzüge ist massiv gestiegen. Zwischen Malmö und Stockholm in einem Jahr um 100 Prozent, zwischen Südschweden und Lappland um 25 bis 60 Prozent. Hatte SJ 2015 wegen sinkender Nachfrage das Nachtzugangebot reduziert, wird es ab Dezember neue Verbindungen und Destinationen geben. Die Mittel für Investitionen in den Waggonpark wurden erhöht. Auch Interrail erlebt eine Renaissance: In Schweden ist der Verkauf der Tickets gegenüber 2017 um 50 Prozent gestiegen.
Trendwende bei den Fluggastzahlen
Aber bringt der „flygskam“ Einzelner denn wirklich etwas für das Klima? „Das weiss ich nicht und das ist für mich nicht entscheidend“, sagt Björn Ferry: „Viele finden das idiotisch. Aber vielleicht denken manche auch: Verdammt, was der Ferry kann, das kann ich doch auch.“
Erstmals seit Jahren zeigen aktuelle Zahlen eine Trendwende bei den Fluggastzahlen: Von Januar bis September drei Prozent weniger innerschwedische Flugreisen und auch ein leichter Rückgang bei den Charterflügen. Setze sich das fort, werde es Konsequenzen haben, sagt Jean-Marie Skoglund, Flugmarktanalytiker bei der staatlichen Transportbehörde: „Die Fluggesellschaften werden den Verkehr mindern. Manche Strecken werden eingestellt werden.“
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