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Präpkurs im MedizinstudiumMaries Leiche

MedizinstudentInnen lernen die menschliche Anatomie an Leichen. Oft ist es ihr erster Kontakt mit einem Toten. Unser Autor hat den Präpkurs begleitet.

„Aus eigenem Interesse einen Menschen auseinandernehmen?“ Marie Bayer reinigt einen Präparationstisch nach dem Kurs Foto: Amélie Losier

Die Haut, grau wie Asphalt, ist in quadratische Flächen aufgeschnitten. Marie Bayer nimmt das Viereck links unten am Rücken zwischen zwei Finger, hebt es an, klappt es zur Seite weg. Unübersichtlich sieht es darunter aus. Fett, Gewebe, ein paar Rippen sind zu sehen, gelb, grau, hellbraun. Von allen Seiten beugen sich die sieben MedizinstudentInnen über die Leiche, Skalpelle in den rechten, Pinzetten in den linken Händen, weiße Kittel über schwarzen Hoodies, roten Tops, Jeans und Röcken. Vom Kopfende aus betrachtet: eine Szene wie in einem schlechten Gruselfilm, in dem sieben Vampire über ihr Opfer herfallen.

Marie Bayer und ihre KommilitonInnen haben kein Opfer vor sich, sondern eine Körperspenderin. Sie studieren im dritten Semester Medizin an der Berliner Charité und sind im Präparationskurs, den alle nur Präpkurs nennen, fast alle zum ersten Mal direkt mit einem toten Menschen konfrontiert. In den kommenden zwei Semestern werden sie den Körper erforschen, von außen nach innen.

Sie werden Haut abziehen, Muskeln freilegen, Nerven präparieren. Die Leiche öffnen, ihre Organe herausnehmen, sich im Bauchraum nach hinten durcharbeiten und so Schicht für Schicht die Anatomie des Menschen zu begreifen versuchen. Eine Praxis, die seit Jahrhunderten fester Bestandteil der Medizinausbildung ist.

Von den Toten, die ihren Körper der Wissenschaft gespendet haben, erfahren die StudentInnen nicht viel. „61/17/w“ steht mit grünem Edding neben dem Präparationstisch auf einem Aluschrank geschrieben. Leichennummer, Jahr des Todes, Geschlecht. Mehr wissen sie nicht. Wer war die Frau? Hatte sie Kinder, einen Mann? Ihre Krankheitsgeschichte lässt sich nach und nach rekonstruieren, anhand von Narben, Gewebe und anderen Merkmalen, die allein ihr Körper erzählt.

Das Unterhautfett

Zwei Mal pro Woche, Mittwoch und Donnerstag 10.15 Uhr, präparieren Marie und sechs KommilitonInnen an ihrer Leiche. Der Saal sieht nicht aus wie düstere Pathologieräume im „Tatort“. Tageslicht fällt durch hohe Fenster, Skelette stehen herum, eine Tafel, Stühle. Außerdem sechs Präpariertische, über denen jeweils eine Art riesige Dunstabzugshaube montiert ist, aus der Luft strömt – gegen den Geruch –, welche an den Rändern des Stahltisches eingesogen wird. So entsteht ein Luftvorhang um die Leichen.

Zu Beginn des Kurses sind sie mit weißen Baumwolltüchern bedeckt und in Plastikfolie gehüllt, damit sie nicht austrocknen. Je zwei Leichen lagern in den Trennschränken hinter Rollos: sechs weibliche links, sechs männliche rechts.

Das Fett fühlt sich flüssig an. An manchen Stellen wie Rührei

Marie Bayer, Medizinstudentin

Trotz der modernen Lüftungsanlage dringt der süßlich-beißende Geruch des Formalins, das zur Konservierung der Leichen benutzt wird, in die Nase, sobald man den Raum betritt. Noch wenn Marie Bayer abends in ihrer WG-Küche sitzt, hängt ihr der Geruch in der Nase. „Ist wohl eine Art olfaktorisches Gedächtnis“, sagt sie. Gewöhnt sie sich daran?

Es ist Ende April, die zweite Woche des Semesters, als Stefan Exner, 66 und Dozent an der Charité, zwei Gruppen an zwei Tische leitet. „Wie ist es euch ergangen nach der letzten Woche?“, fragt er. Schweigen. Lächeln. Marie Bayer sagt: „Nicht so gut. Der Geruch. Ich hab vom Präpkurs geträumt.“

Vorsichtige, kleine Bewegungen macht sie, als sie sich dann mit Skalpell und Pinzette durch das Unterhautfett der Leiche arbeitet, die vor ihr auf dem Bauch liegt. Nachdem die fest mit der darunter liegenden Gewebeschicht verbundene Haut abgetrennt ist, offenbart sich zentimeterdickes gelbliches Fettgewebe. „An manchen Stellen fühlt es sich flüssig an, an anderen härter“, sagt Marie. „Ein bisschen wie Rührei.“

„Sind das hier schon die Bänder?“, fragt einer. – „Ja, sind sie“, sagt ein Tutor, der den Dozent unterstützt.

„Soll ich das ganze Fett da wegschneiden?“ – „Ja, ruhig weg damit.“

Gewebe wird entfernt und in eine kleine silberne Schale gelegt. Alle entfernten Körperteile werden dort gesammelt. Ist die Schale voll, wird sie in einen Plastikeimer entleert. Später, etwa in einem Jahr, wird der Inhalt mit dem Körper verbrannt.

Die Körperspende

Zwei Wochen später schließt Marie Bayer ihr Fahrrad an einem Straßenschild in Berlin-Mitte an, sie kommt gerade vom Präpkurs. 19 Jahre, eine Frau mit Brille und blonden kurzen Haaren. Seit ein paar Jahren weiß sie, dass sie Medizin studieren und die Psyche des Menschen verstehen will. Sie möchte Psychiaterin werden – und muss jetzt trotzdem Haut und Fett von ihrer Leiche entfernen.

Damit kann sie sich nicht so recht anfreunden, sagt sie. „Nur aus eigenem Interesse einen Menschen auseinanderzunehmen.“ Den Menschen also zum Arbeitsgegenstand werden zu lassen, der doch wesentlich mehr sei als sein Körper. Ob ihr der Kurs etwas bringt? „Ich weiß es noch nicht. Es sieht komisch aus, es fühlt sich komisch an. Und es macht Geräusche, wenn man die Haut abzieht.“

Nach dem Präpkurs wird das Besteck von Fett- und Geweberesten gereinigt Foto: Amélie Losier

Sorge bereitet ihr vor allem, das Gesicht zu präparieren, den persönlichsten Teil des Körpers. Sie weiß, dass sie sich überwinden muss, auch bei der Öffnung des Körpers. Mit Säge und Knochenschere, „das ist noch mal eine Stufe härter“. Marie würde gern wissen, mit welcher Motivation ihnen die Tote ihren Körper überlassen hat, und mit ihren Angehörigen sprechen. Dass Menschen ihren Körper für die Ausbildung von ÄrztInnen zur Verfügung stellen, meint sie, sei ein ziemliches Privileg.

Tatsächlich ist die Körperspende ein selbstloser Akt, der über den Tod hinaus wirkt. Eigentlich ist das ja ein urmenschlicher Trieb: etwas zu schaffen, das das eigene Leben überdauert. Kinder großziehen, Bücher schreiben – da gibt es die Anerkennung noch zu Lebzeiten. Körperspender dagegen erscheinen altruistisch, sie schaffen etwas Bleibendes, ohne davon zu profitieren. Marie Bayer beruhigt das.

Die Kartei

In ihrem Büro in einem kleinen Backsteinhaus vor dem großen Anatomiegebäude reicht Martina Plaschke kalten Orangensaft. Seit 1979 lehrt sie an der Charité, seit 18 Jahren ist sie als Prosektorin für die Körperspende zuständig. „Wir brauchen für die Präpkurse jedes Jahr 55 Verstorbene, und für die Fortbildung von Ärzten würden wir weitere 80 brauchen“, sagt sie. In Berlin gebe es etwas zu wenig Körperspender, andere Unikliniken hätten ein Überangebot und einen Aufnahmestopp verhängt.

Körperspender, so erklärt sie, müssen mindestens 50 Jahre alt sein. Sind sie jünger, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie wegziehen, für die Charité nicht mehr auffindbar sind und ihre Namen in der Kartei verstauben. Auch ist es wohl für die Studierenden leichter zu verkraften, wenn sie an den Körpern alter Menschen arbeiten.

Als Körperspender führt man eine grüne Karte mit sich, die einen als solchen ausweist. Nach dem Tod wird die Charité im besten Fall informiert, sie holt den Leichnam ab und bereitet ihn für die Präparation vor. Die Konservierung dauert mehrere Monate, der Präpkurs zwei Semester. Bis die Angehörigen den Verstorbenen beerdigen können, dauert es über zwei Jahre.

taz am Wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

2004 wurde in Deutschland das Sterbegeld gestrichen. Bis dahin zahlten die gesetzlichen Krankenkassen nach dem Tod eines Versicherten bis zu 1.050 Euro an die bestattungspflichtigen Angehörigen – oder eben an die Charité für die Bestattung eines Körperspenders. Seitdem müssen KörperspenderInnen etwa 1.000 Euro an die Charité zahlen. Für viele wirkt das grotesk. „Aber sie bezahlen ja nicht die Körperspende, sondern die Bestattungskosten“, sagt Plaschke. Es sei somit eine günstige Art der Bestattung.

Oft seien die SpenderInnen Angehörige von MitarbeiterInnen der Charité, Eltern von StudentInnen oder frühere PatientInnen – mit einer Verbindung zum Haus. In den meisten Fällen aber seien es Leute, die einfach für ihre Bestattung vorsorgen und ihren Angehörigen keine Arbeit machen möchten. „Und dabei noch etwas Gutes tun“, meint Plaschke. Pragmatisch die Zeit nach dem Tod regeln.

Lunge und Kopf

Begreifen kommt von Greifen. Mit den eigenen Händen Haut, Fett, das Herz, die Lunge, das Kniegelenk erfühlen und verstehen, das lässt sich mit modernen 3D-Modellen schwer ersetzen, die Verschiedenheit der Körper ebenso wenig. „Traditionell hat der Präpkurs auch eine psychologische Funktion als Initiationsritus für Mediziner“, sagt Stefan Exner. Er baut Berührungsängste ab.

An der Charité werden schon die StudentInnen im ersten Semester in den Präparationssaal geführt, in ihrer dritten Studienwoche. Erstes Reinschnuppern, die erste Begegnung mit dem Tod – nicht alle halten das aus. „Ich setze mich kurz hin“, sagt eine Studentin Anfang Mai am Präparationstisch, da wird sie ohnmächtig und von anderen aufgefangen. Wenig später kommt sie angeschlagen zurück. „Surreal ist das mit der Leiche. Ich hoffe, ich gewöhne mich daran.“

Dann folgt die nächste Eskalationsstufe: Aus einem großen Plastikbehälter holt eine Tutorin eine Lunge, dann einen halben Kopf. Längs geteilt, mit Kleinhirn, Großhirn, Augapfel und 30 Zentimetern Wirbelsäule, die daran hängt. Die meisten schrecken zurück. Einige treten näher. Noch nie habe an der Charité jemand wegen des Präpkurses das Studium abgebrochen, heißt es.

Die Niere

Mitte Mai, Marie Bayers Gruppe versammelt sich im Präparationssaal. Plastikhandschuhe werden übergezogen, die Rucksäcke stapeln sich in der Ecke. Dozent Stefan Exner erklärt, wie Gänsehaut am Unterarm entsteht.

Die Leiche liegt bereits auf dem Tisch, noch immer auf dem Bauch. Der Fortschritt der Präparation ist deutlich zu sehen: Die Haut ist noch dran und wird zur Seite geklappt, darunter kaum mehr gelbliches Fett, stattdessen graue Strukturen. Fasern, Gewebe, Knochen schimmern durch. Einzelne große Muskeln, braun und dunkelrot, sind freigelegt. Auch der Kopf liegt frei, von der Stirn bis in den Nacken ist die Haut kreuzförmig eingeschnitten, darunter der Schädelknochen zu erkennen.

Marie Bayer beginnt am rechten Gesäßmuskel. Behutsam, dann immer beherzter entfernt sie darunterliegendes Fett mit Pinzette und Skalpell. Auch die Muskeln sind verfettet, Bindegewebe und Muskeln stark verflochten, die Frau litt also an ALS, einer Nervenkrankheit, so hat es die Gruppe herausgefunden.

Vor dem Präpsaal: Marie Bayer (Mitte), Dozent Stefan Exner und eine Kommilitonin machen Pause Foto: Amélie Losier

„Wollt ihr unsere Leiche mal sehen, bevor wir sie umdrehen?“, fragt der Tutor am Nebentisch. Die männliche Leiche dort sieht aufgeräumter aus, hat kaum mehr Fett, nur Muskeln und Knochen. Alle Gewebearten sind unterscheidbar. Der Tutor zeigt ein paar Highlights: einen Bypass am linken Oberschenkel. Das Rückenmark. Marie Bayer tastet. „Krass, das ist die Niere.“ Ihre KommilitonInnen forschen neben ihr, zusammen wirken sie jetzt wie Schatzsucher.

Schließlich wird die Leiche umgedreht, zum ersten Mal sieht man ihr Gesicht. Sein Gesicht. Markante Nase, Stoppelbart, Stoppelhaar. Sofort wird es still im Saal – als würden die StudentInnen nach Wochen zum ersten Mal wieder daran erinnert, dass sie an einem toten Menschen arbeiten.

Als eine Woche später Marie Bayers Leiche umgedreht wird, sie zum ersten Mal ihr Gesicht sieht, wird ihr kurz schummrig. „Überwältigend war das.“ Sie ist dann kurz raus in den Hof.

Abschied

Im Präpkurs sind die StudentInnen einem Zwiespalt ausgesetzt: Sie dürfen ihre Leichen nicht zum Objekt werden lassen und müssen sich immer wieder vergegenwärtigen, dass sie es mit einem Menschen zu tun haben. Mit seiner Geschichte und seinen Angehörigen, einem Leben. Zugleich sollen sie den Tod nicht zu nah an sich ranlassen, sich nicht für Schicksale interessieren und eben nicht den Aufbau eines individuellen Körpers lernen, sondern den allgemeinen Aufbau.

„Der Mensch ist nach dem Tod ambivalent, er ist gleichzeitig ,reine Materie' und ,soziale Person‘“, so liest es Stefan Exner bei einer Gedenkfeier Mitte Juni vor. Einer, wie sie stets von StudentInnen zu Ehren der KörperspenderInnen organisiert wird, als Dankeschön, als Geste an die Angehörigen, die dazu eingeladen werden. StudentInnen und Angehörige tauschen sich dort aus, ohne genau zu wissen, wer wessen Körper präpariert hat. Marie Bayers Kurs steht das in einem Jahr bevor, sie will sich an der Organisation beteiligen. Jetzt sind die StudentInnen des fünften Semesters dran – und die Vorbereitungen laufen.

„Hat jemand Klebeband?“ – „Ich brauch noch eine Schere.“

Der Hörsaal wird mit Blumen und Kerzen geschmückt, in der Mitte steht ein langer, schwarzer Tisch. Ein Dutzend StudentInnen wirbelt durch den Raum. Einer übt Klavier, eine Geige.

„Ich brauch noch eine Schere!“ – „Hört man die Geige oben?“

Die Tutorin holt einen halben Kopf aus einem Behälter. Mit Kleinhirn, Großhirn und Augapfel

In dreißig Minuten kommen die Gäste, einige StudentInnen ziehen sich um. Schnell die weiße Bluse übers schwarze Top, das blaue Hemd übers T-Shirt. Der Hörsaal füllt sich, die Angehörigen mischen sich in die Reihen. Frau Herbst, 79, sitzt in Reihe fünf. Ihr Mann ist vor wenigen Wochen gestorben. Er ist Körperspender – und obwohl seiner hier nicht gedacht wird, ist sie gekommen, eingeladen worden, weil auch sie als Körperspenderin regis­triert ist. „Vor zwölf Jahren haben wir unser Testament gemacht. Wir haben keine Kinder und überlegt, was bleibt, was wir zurückgeben können“, sagt sie leise, bevor die Gedenkfeier beginnt.

Der Charité-Chor stimmt „Ave Maria“ an, Frau Herbst faltet die Hände. Über die Leinwand laufen die Namen der KörperspenderInnen, für jede und jeden wird eine weiße Rose auf den Tisch gelegt, bis sie einen Kreis bilden. „Ursula H., Eleonore B., Detlef K., Vera L., Inge P.“ 36 Namen. Jeder trägt Geschichten.

Katharsis

„Für die Studenten hat die Gedenkveranstaltung auch eine kathartische Funktion“, sagt Stefan Exner ein paar Wochen später in einem Café in Berlin. Er kommt gerade aus der Anatomie von einem Präpkurs, den weißen Kittel hat er gegen ein hellblaues Hemd getauscht. Exner bestellt eine Cola, sagt über seinen eigenen Präpkurs vor gut 30 Jahren: „Es wurde schnell Alltag. Und es hat sich inhaltlich kaum etwas geändert.“ Nur der Geruch, der sei damals deutlich schlimmer gewesen. Exner kann sich nicht erinnern, dass sich StudentInnen jemals danebenbenommen haben.

„Der Tod wird bei uns sehr oft ausgelagert“, sagt er. „Leute werden ins Altersheim gebracht, Kinder bekommen gar nicht mit, dass Opa stirbt. Die Leichen bekommen sie nicht zu sehen.“ Dabei solle man den Tod nicht als etwas Exotisches darstellen, findet er. „Ich sage den Studenten anfangs immer, dass sie sich jetzt nicht nur mit der Anatomie, sondern auch mit dem Tod beschäftigen sollen.“

Milz und Nieren

Als Marie Bayers Leiche geöffnet wird, um zu ihren Organen vorzudringen, ist Marie selbst nicht da. Mitte Juni, 8.15 Uhr, die Hitze des Tages kündigt sich an. Die Leiche liegt mittlerweile auf dem Rücken, die Haut ist komplett entfernt. Der Körper ist im Umfang geschrumpft. Als hätte er 15 Kilo abgenommen.

Eine der Studentinnen ist aufgeregt. „Darf ich heute schneiden?“, fragt sie, den ersten harten Schnitt macht aber der Tutor. Er setzt die gut 30 Zentimeter lange Knochenschere am Brustbein­ an, kurz unterhalb des Kehlkopfes, und muss Kraft aufwenden. Dann knirscht es, einige zucken zusammen. Der Knochen ist durch, der Brustkorb wird leicht angehoben, darunter kommen dunkelrote Organe zum Vorschein. Bevor sie ganz freigelegt werden können, müssen die StudentInnen ran. Jeder und jede darf eine Rippe an den Körperseiten durchschneiden, wieder knirscht es und knackt, teils müssen sie zu zweit arbeiten. Jemand verursacht einen kleinen Riss an einem Organ – nicht schlimm, passiert.

Als Nächstes wird der Brustkorb Richtung Bauch geklappt, das Herz rot, die Lungenflügel grau, darunter Magen und Darm. „Da, die Milz“, „Oh, die Nieren.“ Es ist der Moment der bislang größten Faszination. Echtes Forscherinteresse – suchen, anfassen, suchen, verstehen.

Dann 30 Minuten Pause, bis Marie Bayers Gruppe dran ist. Vor dem Backsteingebäude der Anatomie stehen StudentInnen und reden über die Partys vom Wochenende. Über das neue Album von Drake. Kaum jemand raucht.

Die Stimmung im Präpsaal wird nach und nach gelöster. Anfangs noch Anspannung, später Alltag Foto: Amélie Losier

Als der Tutor zu Beginn der Stunde über den Brustraum und über Nerven spricht und sagt, dass die andere Gruppe am Morgen schon die Knochen durchtrennt habe, sind manche enttäuscht. Marie Bayer nicht. Sie beugt ihren Kopf über ihre Leiche, ganz nah, und guckt sich die Lunge an, als das grelle Geräusch einer elektrischen Säge ertönt. Am Nachbartisch wird ein Arm abgetrennt. Einige eilen hin.

Derweil trennt Marie Bayer mit dem Skalpell Gewebe unterhalb der Lunge von den Organen, eine Kommilitonin hilft ihr dabei. „Ah, die Leber liegt hier drunter, das Zwerchfell zieht sich da entlang“, sagt sie. Marie versteht jetzt immer besser, was sie in den Büchern zuvor gelesen hat.

Die Stimmung am Tisch wird von Woche zu Woche gelöster. Während anfangs Stille, Zurückhaltung und Konzentration herrschten, scheint das Präparieren jetzt Alltag geworden zu sein. Die Gruppe ist zusammengewachsen, einige sind befreundet – und während man Blutgefäße freilegt, wird gescherzt, über Polnisch als schwierige Fremdsprache und über neue Verhütungsmethoden für Männer geredet.

Am Nachbartisch wird gerade anhand der Lunge über die Herkunft des Körperspenders spekuliert. Deutliche­ Teerspuren sind zu erkennen. „Ein Großstädter“, sagt der Tutor. Zu wenig Teer für einen Raucher, zu viel für einen vom Land.

Das Ende der Stunde naht, die Handschuhe werden in Mülleimer geschnippt, das Besteck gereinigt, Hände gewaschen, letzte Fettreste vom Tisch entfernt. Die Leiche wird mit feuchten Tüchern umhüllt und wieder in Plastikfolie gepackt. Marie Bayer greift die Füße, an der Schulter steht ein Kommilitone, gemeinsam heben sie ihre Leiche in den Schrank neben dem Tisch.

Routine.

Herz und Lunge

Drei Wochen später, Mitte Juli, wird ein Lungenflügel herausgenommen, der Länge nach aufgeschnitten und im Kreis herumgereicht. Marie Bayer greift zu, begutachtet das Lungenstück, außen grau, innen dunkelrot, mit kleinen Blasen und baumartigen Verästelungen, und gibt es weiter. Müde wirkt sie, ein wenig gelangweilt. Sie nimmt das Lungenstück noch mal, wird langsam wach. Das Herz wird aus dem Körper genommen, inspiziert und wieder eingelegt – ein bisschen wie ein Baukasten. Oder Lego. Organe raus, tasten, erfassen, wieder rein. „Heute wird nicht viel gepräppt“, sagt Stefan Exner. „Aber viel verstanden hoffentlich.“

Die Übung

Vorletzter Kurs im Sommersemester, noch zwei Wochen bis zur abschließenden Prüfung – bevor es im nächsten Semester an derselben Leiche weitergeht.

Heute ist Probelauf für den 3D-Multiple-Choice-Test. Als die Tür aufgeht, betreten die StudentInnen einzeln den Saal, jede*r bekommt einen Zettel mit zwanzig Fragen. Im Saal sind alle Leichen aufgedeckt, an ihnen sind zwanzig Stationen markiert, mit Fähnchen und Nummern. Es gilt: eine Minute pro Station.

Marie beginnt an ihrer Leiche, Frage 17 und 10. „Welcher Nerv ist hier markiert?“, „Die markierte Struktur wird vegetativ innerviert durch …?“. Frage 18: „Was dient zur äußeren Unterscheidung der markierten Strukturen vom Jejunum?“ Die 18 wird sie richtig beantworten, die 10 und die 17 falsch.

Im Uhrzeigersinn wechseln die StudentInnen in kleinen Gruppen die Tische, nach je einer Minute ertönt ein Signal. Am Nachbartisch, Frage 11, ein rotes Fähnchen steckt im Knie: „Welche Bewegung im Kniegelenk verhindert das markierte Band?“ Marie tastet am eigenen Knie, beugt es und fühlt. „Innenrotation in Streckstellung“, antwortet sie – richtig. Zwei Tische weiter: ein abgetrennter Arm, am oberen ein Fähnchen, Frage 16. Marie berührt ihre Schulter, bewegt den Arm. 14 von 20 Fragen beantwortet sie korrekt. Damit hätte sie bestanden.

Marie Bayer gewöhnt sich an den Präpkurs und an den Kontakt mit ihrer Leiche, die hinter ihr im Schrank lagert Foto: Amélie Losier

Einen Tag später kommt Marie Bayer mit dem Rad zur Redaktion der taz, verschwitzt, zwischen zwei Uniterminen. Davor war der letzte Präpkurs des Semesters. „Der Test hat gut geklappt“, sagt sie. Und dass der Bauchraum ihr leichter falle, „ist jedenfalls besser, als jeden Ansatz und Muskel genau zu erkennen“.

Fast drei Monate ist es her, dass sie gesagt hat, sie käme mit ihrer Rolle nicht zurecht. Und jetzt? „Ich bin selbst schockiert, aber ich bin entspannter, mache mir weniger Gedanken über die Tote. Manchmal macht mir der Präpkurs sogar Spaß.“ Die Grenzen dessen, was sie als schlimm empfinde, hätten sich verschoben. „Wenn Knochen durchgesägt werden, ist das nochmal eine Stufe härte, als es am Anfang das Hautabziehen war.“ Manchmal vergesse sie, dass da ein Mensch liegt, gerade wenn sie sich auf eine Körperregion konzentriere.

Nur das Gesicht, erzählt sie, sei noch immer ein sensibler Bereich. Sie fühle sich der Person plötzlich so nah. Am Kopf habe Marie deshalb nie präpariert. Gezwungen wird auch niemand, jeder kann selbst entscheiden, was er präparieren will und was lieber nicht.

Und, sagt Marie: Die Realität weiche ihrer Einschätzung nach stark von den Abbildungen im Fachbuch ab. Lunge und Leber fühlten sich total unterschiedlich an, das hätte sie nie gedacht. „Man merkt es sich besser, wenn man es berührt.“

Gehirn und Sinne

Mitte Oktober beginnt das Wintersemester, Marie Bayer war in ihren Semesterferien in Frankreich und Polen, Rumreisen und auf Festivals. Den 3D-MC-Test Ende Juli hat sie bestanden, jetzt geht es im Präparationssaal weiter. Mit neuem Dozent, neuem Tutor, mit derselben Gruppe und derselben Leiche.

In diesem Semester werden sich die StudentInnen mit dem Gehirn, mit den Sinnesorganen, mit Nieren und Lunge beschäftigen. Los geht’s mit dem Gehirn. Die PräparatorInnen haben während der Semesterferien den Schädel der Leiche kreisförmig aufgebohrt, oberhalb der Augenbrauen. Als der Dozent die weißen Tücher entfernt, fällt die Schädeldecke fast von selbst auf den Tisch.

Das Gehirn, das man nun sieht, ist noch von einer weißen Schicht umgeben, der „Dura Mater“ – der Hirnhaut, durch die Blutgefäße schimmern. Marie Bayer tritt einen Schritt zurück. An der Stirn liegt ein Stück Gehirn ganz frei, beige, mit dunklen Stellen in den Vertiefungen.

Der Dozent durchtrennt Blutgefäße, Nerven und Gewebe, schließlich schneidet er die beiden Gehirnhälften auseinander und entfernt eine, später noch das halbe Kleinhirn. Es ist deutlich dunkler, der „Arbor Vitae“, der Lebensbaum, ist zu erkennen: eine weiße Substanz aus Nervenfasern, die sich verästelt.

Marie Bayer geht immer wieder näher an den Tisch und senkt ihren Blick zum Gehirn. Sie will sehen, was wo ist.„Ich bin froh, dass der Kopf schon aufgeschnitten war. Da hätte ich nicht dabei sein wollen“, sagt Marie Bayer später auf dem Hof der Anatomie und läuft Richtung Mensa. Aber, meint sie: „Das Gehirn ist schon der spannendste Teil im Kurs.“ Schließlich will sie Psychiaterin werden.

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2 Kommentare

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  • Auch ich stehe regelmässig im gleichen Präparationssaal wie Marie. Mit großer Demut und Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die ihren Körper spendeten, gehe ich dort ans Werk.



    Mehr und mehr entdecke ich einen künstlerischen Aspekt, so als male ich ein Bild, in dem die verschiedenen Strukturen des Körpers dargestellt werden. Ein Gebiet, welches man einmal präparierte, wird nie wieder vergessen.

  • ja, den Geruch vergisst man sein Leben lang nicht mehr.



    Das hat sich eingebrannt.

    Aussuchn was man präparieren möchte konnten wir damals in Bonn nicht.



    Und den Präpkurs in der alten Anatomie konnte man nur im Wintersemester machen. Im Sommer war es zu warm. Es gab dort noch keinerlei Klimaanlagen.

    Das schlimmste war der erste Tag, als wir (Zahnis) zuerst durch den grossen RAum der Medizinstudenten gehen mussten auf jeder Seite 10 nackte unberührte Körper liegen habend.



    Später, als dort Menschen arbeiteten war es nicht so anstrengend und zunehmend erträglicher.

    Den erste Schnitt in den äusserlich unberührten Körper konnte ich am schlechtesten ertragen - und zugucken ist schlimmer als selber arbeiten.



    So zumindest ging es mir.



    Wir bekamen später in Zweiergruppen einen halben wie im Artikel getrennten Kopf zugeteilt und mussten dort alles machen.



    Ich hatte das gleiche Unbehagen wie Marie es beschrieben hat, aber das selber handeln machte es erträglich .



    Und es war unglaublich interessant und hilfreich, ich denke unabdingbar um später am lebenden Menschen zu arbeiten.



    Die Professoren und die meisten anderen Mitarbeiter waren unglaublich anständig im Vergleich zu dem was man sonst an Menschen erlebt.



    Ich bin heute noch dankbar für den Ernst und die Güte mit denen die Körperspender behandelt wurden.

    Alltag ja, aber immer Respekt.