: Kriege von damals, Konflikte von heute
Das Festival „War or Peace. Crossroads of History 1918/2018“ des Gorki Theaters überblendet die Nationalismen von 1918 mit denen von heute, versucht eine Faschismusanalyse mit szenischen Mitteln und holt die dunklen Seiten der EU-Gründung wieder ans Tageslicht
Von Tom Mustroph
Rückblicke haben es in sich. Als Shermin Langhoff und Jens Hillje in ihrer allerersten Spielzeit am Gorki im Frühsommer 2014 auf den Beginn des Ersten Weltkriegs zurückschauen ließen, wirkte das noch wie eine brave Geschichtsübung engagierter Theaterkünstler. Man starrte, mit etwas Schaudern in den Knochen, auf das beginnende Schlachten im „Großen Krieg“. Es blieb aber, Syrienkrieg hin, Afghanistankonflikt her, noch recht entfernt von der (west-)europäischen Lebensrealität. Die war weiterhin geprägt vom „langen Frieden“ seit 1945, trotz „Kaltem Krieg“ zwischendrin und digitalem Kapitalismus zuletzt.
Vier Jahre später sind die Problemlagen des frühen 20. Jahrhunderts gespenstisch nahe gerückt. „Wir leben in einer Situation der Rückkehr von Nationalismen und Faschismen, bis hin zu Menschen, die die Rückkehr eines nationalen Sozialismus fordern“, konstatiert Gorki-Co-Intendant Hillje. Und es entfährt ihm ein „leider“ darüber, dass die länger schon geplante Rückschau auf die Ereignisse von vor 100 Jahren inzwischen prophetische Qualitäten aufweist. Hillje spricht gar von einem „Weltbürgerkrieg“, der 1918 begann und bis ins Heute reicht.
Vor gut 100 Jahren wurden tatsächlich die kästen für einige der heute noch virulenten Konflikte installiert. Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, benannt nach den Unterhändlern auf britischer und französischer Seite, legte zum Beispiel nicht nur den Keim für das Palästina-Problem. Die seinerzeit recht willkürlich gezogenen Grenzen im Nahen Osten dienen zudem bis heute dem „Islamischen Staat“ zur Verbrämung des eigenen Terrors als Form von antikolonialem Widerstand.
Die in den 90er Jahren auf dem Balkan ausgebrochenen Kriege wiederum lassen sich als Spätfolge der an den Ersten Weltkrieg anschließenden ethnischen Säuberungen und willkürlichen Grenzziehungen verstehen. Dieser Aspekt ist zentral für das Festival. In „Haunted Houses“ blicken türkische, bulgarische und griechische Theatermacher gemeinsam auf die Vertreibungswellen in ihren Ländern zwischen 1913 und 1923 (19. & 20. 10.). In die kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre begibt sich hingegen der slowenische Regisseur Oliver Frljic mit „Damned be the Traitor of his Homeland!“ (25. & 26. 10.).
Ebenfalls im früheren Jugoslawien ist „Memories of Sarajevo“ angesiedelt. Die jungen französischen Regisseurinnen Julie Bertin und Jade Herbulot sehen Sarajevo einerseits als den Ort des Attentats, der zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde. Andererseits ist Sarajevo auch ein Versagensort der Europäischen Union. Denn während dort in den 1990ern belagert und geschossen, getötet und vergewaltigt wurde, konzentrierte sich Westeuropa auf das Aushandeln der EU-Verträge. Bertin und Herbulot gehören zu einer Generation von Theaterkünstlern, die mit der EU aufgewachsen sind und nun, in Zeiten von Brexit und weiteren Austrittsambitionen, die Gründungsgeschichten der Gemeinschaft überprüfen.
Ein anderer Aspekt der langen Konfliktgeschichte nach 1918 sind die postsowjetischen Territorialkriege. Der georgische Regisseur Data Tavadze hat für sein Projekt „After Party / After Life“ (16. & 18. 10.) Kriegsveteranen des russisch-georgischen Kampfes um Abchasien und Ossetien interviewt und auch mit den Söhnen der Kriegsheimkehrer gesprochen. Aus ihren Aussagen formt er das Bild einer Gesellschaft, die in mindestens zwei Generationen durch eine kollektive Form von posttraumatischer Belastungsstörung geprägt ist.
In der früheren deutschen Kolonie Tansania suchte Kathleen Bomani Schauplätze des Stellvertreterkriegs deutscher und britischer Kolonialherren während des Ersten Weltkriegs auf („What happened here“ (16. & 18. 10.)
Eine Prise postkolonialer Kriegsaufbereitung steckt auch in Daniel Koks Performance „Rules of Engagement“ (25.–27. 10.). Der Choreograf aus Singapur wird im heimischen Stadtstaat regelmäßig zu Reservistenübungen eingezogen. Mit seinem dort erworbenen militärstrategischen Know-how stellt er nun im postpreußischen Berlin Situationen der Schlacht von Verdun 1916 nach. Er macht zudem deutlich, wie schnell man in den Befehlsroutinen aufgehen kann: Full Immersion in Feldgrau also.
Zum Festival gehören auch noch Filmscreenings zur feministisch-anarchistischen Bürgerkriegsenklave Rojava (26. & 27. 10.) und zum Falklandkrieg (18.10.) sowie das Dokumentartheaterstück „Kultur verteidigen“ (16. 10., 18.– 19. 10. & 21.10.). Hier skizziert Hans-Werner Kroesinger mit einem Reenactment des Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur in Paris im Jahre 1935 die Illusionen und die begrenzten Wirkungen von Künstler-Mobilisierung gegen den Faschismus.
Angesichts der ästhetisch wie thematisch sehr unterschiedlichen Projekte fällt die Orientierung bei „War or Peace“ nicht unbedingt leicht. Mit einer doppelten Fokussierung, einmal auf das jeweils aktuelle Projekt, und parallel auf die Rahmenerzählung von einhundert Jahren Weltbürgerkrieg verspricht das Festival aber doch eine Fülle von Erkenntnissen und Einsichten. Begleitet wird es vom Programm Campus, einer Serie von Workshops und Diskussionen, zu denen das Gorki Theater gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung 400 junge Menschen aus aller Welt eingeladen hat. Die Anmeldungsfrist dafür ist allerdings bereits abgelaufen.
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