Trauerkultur im Fußball: Dauerkarten sterben nicht
Tod und Trauer gehören zum Fußball, denn Spielern, Trainern und Fans wird gedacht. Der Sport sorgt dafür, dass sich die Bestattungskultur verändert.
„Ich komme ja eher vom Tod“, sagt Christa Becker. Soll heißen: Die Kölner Ausstellungsmacherin hat sich mit dem Tod beschäftigt, sie wollte das Thema auch mal humoristisch nehmen. Im Mai hat sie in Düsseldorf auf der Bestattungsfachmesse eine Schau mit dem Titel „Abpfiff. Wenn der Fußball Trauer trägt“ gezeigt. In einer Vitrine sind Plüschmaskottchen zu sehen, die ins Grab gelegt werden können.
Fußballurnen werden ausgestellt, ein Themengrab, Eckfahnen mit den Symbolen Kreuz, Öllampe, Rose und „R.I.P.“ – und als Highlight waren drei Schalensitze zu sehen, auf denen schon ein Skelett Platz genommen hat. „Die Fankleidung des Gerippes wird selbstverständlich regional angepasst und zeigt die Farben eines Vereins“, wie es in der Broschüre heißt, die Becker zusammengestellt hat.
Am Fußball fasziniert sie die „unendliche Vielfalt“, gerade, wenn es um Trauerkultur geht: „Dass es Särge in Vereinsfarben gibt, wusste ich ja, aber ein Bestatter hat mir gesagt, ich solle da mal reingucken: Die sind mit Vereinsbettwäsche ausgelegt.“
Carmen Mayer kommt eher vom Fußball, dabei ist die Berlinerin von Beruf Trauerbegleiterin. Aber sie geht gerne ins Stadion, zum Frauenbundesligisten Turbine Potsdam. Sie hat jetzt im Rahmen einer Weiterbildung eine wissenschaftliche Arbeit „Wenn Fußball und Trauer aufeinandertreffen“ vorgelegt. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem Thema, und seit Kurzem ist sie in einem Netzwerk dazu aktiv.
90 Minuten von Trauer abschalten
„Ich bin selbst betroffen“, berichtet Mayer, wie sie zu ihrem Thema kam. „2006 war ein entscheidendes Jahr: Mein Junge ist tot zur Welt gekommen. Im Sommer 2006 war ja die WM in Deutschland. Da begann meine Leidenschaft für das Thema. Ich hatte einen Untermieter aus der Schweiz, der die WM schaute. Beim Zuschauen habe ich bemerkt, dass ich in meiner Trauer um meinen verlorenen Sohn abschalten konnte: 90 Minuten lang. Auch die EM 2008, als meine Tochter starb, erleichterte mir die Trauer.“
Trauer im Fußball ist mehr als ein Schwarz-Weiß-Foto auf der Anzeigentafel oder eine feierliche Ansprache, weil ein Altinternationaler des Vereins gestorben ist. Es ist auch mehr als eine Fußballurne auf dem Fanfriedhof, wie es in Gelsenkirchen bei Schalke und in Hamburg beim HSV einen gibt. „Es gibt ja viel Trauer im Fußball, es ist einem vielleicht nur nicht so sehr bewusst“, berichtet Mayer.
„Es gibt die Schweigeminuten, Ultras veranstalten Choreografien, es werden Statements verlesen, es gibt die schwarze Armbinde als Trauerflor. Auch solche Dinge wie der Totenkopf auf schwarzem Grund in der St.-Pauli-Flagge kann man dazuzählen. Auch die Nachrufe, die beim FC Union verlesen werden. Dann gibt es Peter Plum, der sammelt und recherchiert, wie verstorbene Bundesligaspieler zu Tode gekommen sind. Es gibt spontane Trauerbekundungen – etwa im März, als Mainz beim BVB spielte, zwei Dortmund-Fans einen Herzinfarkt erlitten und einer in der Kurve gestorben ist.“
Da wurde es sehr ruhig im Stadion, die Fans auf der Südtribüne rollten die Transparente ein. Erst die Dortmunder, dann auch die Mainzer Fans wurden leise, die Spieler auf dem Feld waren irritiert. Kurz vor Abpfiff sangen alle zusammen „You’ll never walk alone“. „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagte BVB-Präsident Reinhard Rauball später. „Diese Bilder kann man durch Worte nicht toppen.“
Mit dem toten Bruder im Stadion
Seit 2006 sammelt Carmen Mayer Material zum Thema Trauer und Fußball. „Auch solche Berichte fand ich: Ein Eintracht-Fan, der immer mit seiner Frau ins Stadion ging, und nun, nach ihrem Tod, sagt, er gehe immer ‚zu zweit ins Stadion‘, in Gedanken mit ihr.“ Mayer erinnert auch an den Film „Das Spiel ohne Ball“ von Alfred Behrens (2004): „Da geht es darum, wie er als Fünfjähriger immer unter dem dicken Mantel des Bruders ins Stadion zu Altona 93 in Hamburg geschmuggelt wurde, und der Bruder starb früh. Behrens hat den Film gemacht, um seinem toten Bruder zu erzählen, wie es mit ihm und seiner Fußballleidenschaft weitergegangen ist – ohne ihn.“
Fußball kann bei Trauer helfen. Diese Erfahrung hat Carmen Mayer immer wieder gemacht. Auch bei Profis. „Die frühere Nationalspielerin Inka Grings hat nach zwei WM-Toren in der Presse verkündet, dass sie für ihren toten Vater gesiegt hat.“ Als der Vater des früheren Bayern-Profis Pierre-Emile Højbjerg starb, nannte er den Fußball „meine Medizin und Therapie“.
Und Jakub „Kuba“ Błaszczykowski, Ex-Profi bei Borussia Dortmund, hatte als Zehnjähriger mitansehen müssen, wie sein Vater seine Mutter getötet hatte. „Ich habe mich oft gefragt, ob ich das zugelassen hätte, wenn ich älter und stärker gewesen wäre. Aber diese Konjunktivfragen bringen nichts. Es ist wie im Fußball. Wenn du dir nach dem Spiel den Kopf zerbrichst, wie du in einer bestimmten Situation reagiert hast, machst du dich wahnsinnig. Du musst es akzeptieren.“
Es gibt Vereine, die sich der Trauer offensiv stellen. Am deutlichsten der Zweitligist Union Berlin. Stadionsprecher und Union-Geschäftsführer Christian Arbeit verliest in der Halbzeitpause Nachrufe auf verstorbene Fans. Das ist einmalig im Profifußball. Union verzichtet darauf, in der Pause noch mit Kleinsponsoren Geld zu verdienen. „Diesen Platz füllen wir mit uns selbst. Mit Union-Faninhalten“, hat Carmen Mayer in ihrer Arbeit berichtet.
Vielfalt der Trauer
Es sind „Minitrauerreden“, die er da hält, und die Reaktionen sind gut, und bei Union gibt es wirklich bemerkenswerte Fälle. „Wir hatten am letzten Spieltag der vergangenen Saison auch etwas sehr Interessantes“, berichtet Arbeit. „Da hatten wir zwei Personen im Stadion, die im Grunde wussten, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr letztes Spiel sein wird, das sie erleben können.“ Fußball hatte für sie „dann so was Hospizartiges, so ein bisschen fast Sterbebegleitung. Und das ist natürlich auch eine rührende Angelegenheit.“
Gerade die Vielfalt der Trauer, die sich im Fußball zeigt – von der großen Gedenkfeier für den Nationaltorwart nach dessen Suizid bis hin zum Transparent für verunglückte Fans –, hat Christa Becker zu ihrer Ausstellung inspiriert. Was Fans in einer Ausstellung merkwürdig finden könnten, etwa, dass sie sich schon mal in einen Sarg mit Vereinsfarben legen sollen, ist bei Bestattern völlig normal, hat Becker herausgefunden. „Die haben gar keine Berührungsängste mit dem Tod“, sagt Christa Becker.
Fußball und Trauer zusammenzudenken war den Menschen, die den Umgang mit dem Tod zu ihrem Beruf gemacht haben, völlig normal. Nur die anderen Menschen verdrängen den Tod – auch Fußballfans. Dabei gibt es große Gemeinsamkeiten. Christa Becker zitiert den Fußballhumoristen Arnd Zeigler, der bei der Bestattermesse den Eröffnungsvortrag ihrer Ausstellung gehalten hat: „Es ist die tiefe Emotionalität, die sich in beiden Bereichen findet.“ Da müsse man sich nur die Tränen anschauen, wenn ein beliebter Profi sein Abschiedsspiel für den Verein gibt.
Mayer und Becker sehen beide, dass der Fußball ein wesentlicher Teil der Veränderung der Trauerkultur ist. Von einer „Demokratisierung“ des öffentlichen Gedenkens spricht Becker. Mayer drückt es so aus: „Trauer ist individueller und privater geworden in den vergangenen Jahren. Es gibt kaum noch öffentliches Aufbahren, Bestattungen finden im engsten Familienkreis statt, und das Leben des Verstorbenen wird mehr wertgeschätzt: Wenn der Tote Fußballfan war, spielt das bei der Trauerfeier eine Rolle.“
Im Frauenfußball ist Trauer nicht so präsent
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Vielleicht aber wird der Fußball auch nur stärker wahrgenommen. Christa Becker zitiert auf einer Tafel in ihrer Ausstellung einen Kölner Bestattungsunternehmer: „Im Beratungsgespräch entstand eine kleine Pause. Und plötzlich fragte einer der Angehörigen: ‚Hör mol, dem sing Dauerkart, wer kritt die eijentlich?‘“
Die Berufsgruppen, die sich mit dem Sterben und dem Tod beschäftigen, ziehen mit. Der Trend zu immer mehr Urnenbegräbnissen, die Abkehr von großen Grabsteinen und das Aufkommen von Billigbestattern haben die Branche aufgerüttelt, nach neuen Wegen zu suchen. In Köln auf dem Melaten, das ist der größte und traditionsreichste Friedhof der Stadt, gibt es eine alte Kapelle, erzählt Becker, „noch älter als der Melaten“. Da wollen die Kölner Friedhofsgärtner bald ihre Ausstellung zeigen. Irgendwie wird der Tod attraktiver.
„Interessanterweise ist das Thema Trauer im Frauenfußball nicht so präsent wie bei den Männern“, sagt Carmen Mayer. Sie vermutet, dass es daran liegt, dass es im Frauenfußball keine Ultras gibt, die für große Inszenierungen sorgen. Bei Turbine Potsdam, ihrem Verein, hat es in den vergangenen Jahren zwei Beerdigungen gegeben. Sie zitiert die Vorsitzende des Fanclubs Turbinefans: Nach dem Tod eines sehr engagierten Fans stellte sich heraus, dass der Mann sehr einsam war und nicht für eine Beerdigung gesorgt war.
Ein Armenbegräbnis, aufgebessert mit eingenommenen Spenden, wurde organisiert, und alle waren sehr stolz, dass der damalige Cheftrainer Bernd Schröder auch zur Beerdigung kam. „Wie der einen Kniefall macht vor dem Grab, also wie von Brandt zu Warschau. Das war fantastisch“, berichtet die Fanclubvorsitzende. „Das hat es auch noch mal bestätigt, dass Trauerarbeit und Fußball Dinge sind, die sind ganz nah, also haben ganz, ganz viel miteinander zu tun, weil es eine Fanfamilie ist.“
Singend am Grab
Fußball kann bei Trauer hilfreich sein. Christa Becker zitiert in ihrer Ausstellung Rolf Rojek, den langjährigen Schalker Fanbeauftragten: „Am besten wär et, wenn se um mein Grab rumstehen, alle inne Kutten, un wenn se dann noch singen: ‚Steh auf, wenn du ein Schalker bist!‘“
Und was treibt eine Frau wie Carmen Mayer an, die in jahrelanger Arbeit ein Archiv zur Trauer im Fußball erarbeitet, die eine wissenschaftliche Arbeit dazu vorgelegt hat und die jetzt ein Netzwerk zum Thema koordiniert? „Ich wollte das auf jeden Fall machen, bevor ich sterbe. Das habe ich geschafft.“
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