Trauer und Fußball in Berlin: Nachrufe in der Halbzeitpause

Der 1. FC Union gedenkt seiner verstorbenen Fans mit einem festen Ritual. Auch Hertha will nun Strukturen und Angebote für Trauernde etablieren.

Das Bild zeigt eine Gedenkaktion von Union Berlin für verstorbene Fans anlässlich des Aufstiegs in die 1. Bundesliga

Gedenkaktion von Union Berlin für verstorbene Fans anlässlich des Aufstiegs in die 1. Bundesliga Foto: Matthias Koch/imago

Der FC Union Berlin, der sich, wie alle Fußballclubs, gern als unverwechselbar betrachtet, ist es in einer Hinsicht zweifellos: Schon seit vielen Jahren verzichtet der Verein in der Halbzeitpause auf Reklame und der Stadionsprecher verliest stattdessen Nachrufe auf verstorbene Fans. Das ist einzigartig.

Als vor dem diesjährigen Saisonstart ein langjähriger Anhänger starb, schrieb der Fanblog Textilvergehen daraufhin: „Spätestens in der Halbzeitpause (…) geht es um uns. Unsere Familie. Unseren Verein. Denn uns hat gestern Matti Mi­chal­ke nach schwerer Krankheit verlassen und ist jetzt bei all den anderen wunderbaren Menschen, die leider nicht mehr hier sind.“

Auch die Aktion „Endlich dabei“, die im August 2019 von der aktiven Fanszene organisiert wurde, fügt sich in das Bild eines Clubs, der mit dem Gedenken an Verstorbene einen besonderen Umgang sucht. Und das bereits seit Langem: So war das Stadion An der Alten Försterei in Köpenick voller als ausverkauft, bevor Union Berlin vor gut vier Jahren zum ersten Mal in seiner Geschichte Bundesligafußball spielte. Während der Vereinshymne vor dem Spiel hielten damals einige der 22.476 Stadionbesucher die Bilder von 455 verstorbenen Fans hoch, die ihren Verein nicht mehr in der höchsten Spielklasse erleben konnten.

Carmen Mayer ist selbstständige Trauerbegleiterin und hat vor fünf Jahren das Projekt „Trauer und Fußball“ initiiert. Seitdem publiziert, schult und spricht sie darüber, wie der Fußball und sein Umfeld beim Gedenken an Trauernde helfen können. „Trauer ist individuell verschieden, und Vereine sind individuell verschieden“, sagt die 49-jährige Dauerkartenbesitzerin bei Turbine Potsdam zur taz. Das Halbzeit-Ritual der Unioner sei deshalb nur ein Beispiel. „Das kann man übernehmen oder nicht.“

Fan-Sein ist mehr als Fußball-Gucken

Und doch ist es eine wertvolle Arbeit, die Union da leistet, findet Mayer. Dass der Verein in seinem Stadion überhaupt Strukturen und Raum für das Gedenken an verstorbene Fans geschaffen hat, ist außergewöhnlich. Dabei scheint es bei genauerer Betrachtung naheliegend. Denn Fußballfan zu sein bedeutet für Menschen oft mehr, als jedes Wochenende 90 Minuten lang 22 Männern oder Frauen beim Kicken zuzusehen.

Gerade diejenigen, die sich einem Club so sehr hingeben, dass sie ihm quer durch Deutschland oder um die ganze Welt folgen oder auch nur jedes Heimspiel besuchen, tun das für gewöhnlich nicht, weil sie so besessen nach dem Spiel auf dem Rasen wären. Sondern wegen der Gemeinschaft auf den Rängen, die Freude, Leid und Wut teilt.

„Zu uns kommen häufig Menschen, die einen Weggefährten verloren haben“, sagt Saskia Kriese, die bei Hertha BSC in der Fanbetreuung arbeitet. „Für viele ist Hertha gleichbedeutend mit Familie, und wenn jemand nicht mehr da ist, wird das betrauert.“ Ganz oft werde der Wunsch geäußert, dass der Verein eine Rolle bei der Verabschiedung spielt oder die Lücke anerkennt, die der Tote hinterlässt. „Doch bisher gibt es kaum feste Strukturen und Angebote für trauernde Fans bei Hertha“, sagt Kriese. „Das wollen wir jetzt zusammen angehen.“

Seit Juni kooperiert der Verein mit dem Projekt „Trauer unterm Flutlicht“, das Carmen Mayer von „Trauer und Fußball“ gemeinsam mit „KickIn“, einer Beratungsstelle für Inklusion, gestartet hat, gefördert von der Deutschen Fußballliga (DFL). Gemeinsam wolle man „lernen, was die Herausforderungen sind, und ermitteln, welche allgemeingültigen Tipps wir an andere Clubs weitergeben können“, sagt Carlo Kosok von „KickIn“.

Hilfe, aber keine Vorgaben

Die Verantwortlichen betonen, dass die einjährige Zusammenarbeit als Modellprojekt gedacht ist, das anderen Vereinen helfen, aber keine Vorgaben machen soll. Strukturen, die hier geschaffen würden, seien auf andere Clubs nicht eins zu eins anwendbar. „Jeder Verein soll finden, was ihm zusagt“, sagt Carmen Mayer. „Die Fußballkultur ist eine unheimlich kreative Szene, die immer wieder tolle, neue Sachen entwickelt.“

Das Projekt soll vor allem dazu dienen, Erfahrungen zu sammeln und Transparenz zu schaffen. So ist eine Internetseite geplant, die Fans eine Übersicht zu den Möglichkeiten der Trauer bei ihrem Verein bieten soll. Die Ergebnisse der Zusammenarbeit wollen alle Beteiligten im nächsten Sommer präsentieren.

Was die Wünsche von Trauernden angeht, berichtet Fanbetreuerin Kriese, dass es einerseits häufig Anfragen gebe, die die Trauerfeiern oder eine besondere Gestaltung der Urne betreffen. Andererseits komme es immer wieder vor, dass Hinterbliebene etwa Blumen oder Kerzen zum Gedenken mit ins Stadion bringen wollen. Die Spielstätte ist für viele ein ganz besonders wichtiger Ort des Erinnerns, das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Union Berlin.

Trauerbegleiterin Carmen Mayer, deren Projekt sich als Teil der Fußballfankultur begreift, erzählt, dass besonders aktive Fans und Fanszenen häufig die treibende Kraft hinter den Aktionen zum Gedenken seien. Ihre Einbindung halte sie daher für unerlässlich. Die Berliner Ultras tragen regelmäßig den „Remember Benny-Cup“ und das „Carsten Grab Gedenkturnier“ aus, um zwei jung verstorbener Mitglieder der Szene zu gedenken. Benny stand jahrelang in der Kurve von Hertha, Carsten war Fanbeauftragter des Vereins.

Warum solche Wege des Gedenkens besonders wertvoll sind? „Weil es eine Würdigung, eine Erinnerung an die toten Menschen ist“, erklärt Mayer. „Von Trauernden höre ich oft: Wenn nicht mehr über den verstorbenen Menschen gesprochen wird, dann ist das wie, wenn er ein zweites Mal stirbt.“

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