Syrer im Libanon: Assad wartet schon
Im Libanon leben anderthalb Millionen Geflüchtete aus Syrien. Die sollten jetzt zurückkehren, finden die meisten der vier Millionen Libanesen.
Es ist Ende September, und im Libanon ist der Sommer noch nicht vorbei. Draußen vor der Wohnungstür flimmert die Nachmittagshitze über dem betonierten Parkplatz. Baschar rückt den Ventilator zurecht und zündet sich die nächste Zigarette an: „Bevor ich verhaftet wurde, habe ich an jeder Demonstration gegen das Regime teilgenommen. Wir waren jeden Tag auf der Straße.“
Anfang 2012, so erzählt es Baschar, verschleppte ihn der syrische Geheimdienst und brachte ihn in ein Gefängnis in Homs, dort wurde er täglich geschlagen und misshandelt. Seit dieser Zeit hat er Probleme mit den Füßen, seine Knöchel sind gezeichnet von den Folterspuren. Was sie genau mit ihm gemacht haben, möchte er nicht sagen.
Baschar hatte Glück: Nach einem Monat ließen sie ihn laufen. Nach seiner Entlassung floh er in den Libanon. „Ich habe mich in ein Taxi gesetzt und bin direkt nach Beirut gefahren.“ Seine Frau und die Kinder musste er zurücklassen. Sie kamen einige Monate später nach – zu Fuß, über die grüne Grenze im Libanon-Gebirge. „Vier Tage waren sie unterwegs“, erzählt Baschar. „Der Schmuggler, der ihnen den Weg zeigte, hat dafür 800 Dollar verlangt.“
Kein Schutzstatus
Etwa 1,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien leben heute im Libanon – neben 4 Millionen Libanesen. Wie hoch die Zahl genau ist, kann niemand sagen. Im Mai 2015 stoppte die libanesische Regierung die Registrierung der Ankommenden durch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Der Libanon hat weder die Genfer-Flüchtlingskonvention von 1951 noch das Zusatzprotokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge unterzeichnet. Geflüchtete aus Syrien genießen nach libanesischem Recht also keinen besonderen Schutzstatus.
Zu Beginn des Konfliktes im Nachbarland praktizierte der Libanon eine Politik der „offenen Tür“: Flüchtende Syrer wurden ohne Einschränkung hereingelassen. Aber ab 2014, als deutlich wurde, dass der Konflikt nicht so schnell gelöst werden würde und die Zahl der Schutzsuchenden die 1-Million-Marke überschritt, änderte sich das.
Von offizieller Seite werden die Syrer meist auch nicht als „Flüchtlinge“ (Lasch’iin), sondern als „Vertriebene“ (Nazhiin) bezeichnet. Dadurch will man auch rhetorisch jeden Vergleich mit den palästinensischen Flüchtlingen vermeiden, die 70 Jahre nach ihrer Vertreibung immer noch im Libanon leben. Aus demselben Grund hat der libanesische Staat seit Beginn des Krieges in Syrien – anders als etwa Jordanien – den Bau offizieller Flüchtlingslager untersagt. Im Bekaa-Tal, einer Hochebene zwischen dem Libanon-Gebirge und dem Anti-Libanon, auf dem die libanesisch-syrische Grenze verläuft, leben deswegen heute hunderttausende syrische Geflüchtete in „informellen“ Zeltstädten. Sie werden zwar geduldet, aber nach offizieller Rechtslage können ihre Behausungen jederzeit abgerissen werden.
Syrer als Sündenböcke
Dass die syrischen Geflüchteten besser heute als morgen in ihre Heimat zurückkehren sollen, ist im Libanon inzwischen die Meinung der allermeisten. Am lautesten fordert das Gebran Bassil, Außenminister in der libanesischen Übergangsregierung: „Es gibt einen internationalen Willen, die syrischen Flüchtlinge im Libanon zu halten, und diesen Willen werden wir brechen“, verkündete er im vergangenen Juni. Auch Bassils Schwiegervater, der libanesische Präsident Michel Aoun, macht immer wieder deutlich, dass er eine Rückkehr der Syrer auch ohne eine vorherige politische Lösung des Konfliktes für notwendig hält.
Lautsprecher wie Bassil benutzen die syrischen Geflüchteten auch gern als Sündenböcke und geben ihnen die Schuld für die zahlreichen Probleme des Libanon: die ständigen Stromausfälle, das Müllproblem oder die schlechte gesamtwirtschaftliche Lage. Seit etwa einem Jahr organisieren die libanesischen Verbündeten des Assad-Regimes – die schiitische Hisbollah und die christliche Bassil-Partei FPB – in Zusammenarbeit mit den libanesischen Behörden die Rückführung kleinerer Gruppen von Syrern. Auf diesem offiziellen Weg sind seit Anfang des Jahres aber nur etwa 14.000 Personen zurückgekehrt.
Für die Propaganda des Assad-Regimes sind diese Rückführungen jedoch Gold wert: Busse mit Konterfeis des Diktators an der Frontscheibe, Familien mit fahnenschwenkenden Kinder, die auf der syrischen Seite der Grenze empfangen werden – diese Bilder sagen: Der Krieg ist vorbei, alles ist sicher, es ist Zeit für die Syrer, zurückzukommen.
Für Baschar ist eine Rückkehr jedoch ausgeschlossen: „Wenn ich zurückgehe, bringt mich das Regime um!“ Kurz nachdem er in Beirut angekommen war, begingen Assad-treue Milizen (Schabiha) am 25. Mai 2012 in seinem Heimatdorf Taldau ein Massaker. Über 100 Menschen wurden ermordet, fast die Hälfte davon Kinder. „Sie haben auch eine Tante von mir umgebracht, und die beiden Söhne meines Bruders“, erzählt er. „Sie waren 18 und 22 Jahre alt.“
Ende 2011 und 2012 kam es in Baschars Heimatregion Hula zu Kämpfen zwischen der Assad-treuen syrischen Armee und den Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA). „Als die Armee nach Hula kam und die Kämpfer der FSA vertrieben hat, sind die meisten aus unserem Dorf entweder nach Idlib oder in den Libanon geflüchtet. Die Hälfe der Häuser im Dorf wurden bei den Kämpfen zerstört“, erzählt Baschar – auf seinem Telefon zeigt er Fotos einer Trümmerlandschaft.
Heute arbeitet er auf einer der zahllosen Baustellen in Beirut. Dort verdient er rund 250 Dollar im Monat. Zusätzlich bekommt die Familie 150 Dollar Finanzhilfe vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Baschar, seine Frau und die vier Kinder müssen also von etwa 400 Dollar im Monat überleben. „Das reicht natürlich hinten und vorne nicht.“
Trotzdem gehören Baschar und seine Familie gewissermaßen zu den Privilegierten unter den syrischen Flüchtlingen im Libanon: Sie wohnen in einem richtigen Haus und die Kinder gehen in eine der vom UN-Kinderhilfswerk UNICEF geförderten Schulen.
Keine Arbeit, keine Hilfe
Davon kann Abdelkarim nur träumen. Der 32-Jährige wohnt mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern in einem Flüchtlingscamp am Rand von Tal Abbas im äußersten Norden des Libanon. Die Gegend gehört zu den ärmsten Regionen des Landes. Arbeit gibt es, wenn überhaupt, auf den Feldern. Rings um das Dorf erstrecken sich die Anbauflächen für Gurken, Kartoffeln und Tomaten. Zur syrischen Grenze braucht man zu Fuß etwa eine halbe Stunde.
Abdelkarim sitzt auf einem roten Plastikstuhl in einer der schmalen Gassen des Camps und schlürft einen Kardamom-Kaffee. Auf seinem T-Shirt prangt der deutsche Schriftzug: „Klasse! Wir singen“. Aber zum Singen ist ihm nicht zumute: Seit sechs Jahren lebt er im Lager in einer notdürftig aus Plastikplanen und Spanplatten zusammengezimmerten Hütte. 2012 flüchteten er und seine Frau aus Baba Amr, einem sunnitischen Viertel in Homs, dass während der Belagerung durch die syrische Armee täglich beschossen wurde.
Auch er hat zweieinhalb Monate in einem Kerker des Regimes verbracht. „Die Armee hat einfach alle jungen Männer ins Gefängnis gesteckt und gesagt: ‚Das sind Terroristen.‘ Ich habe gesehen, wie Leute im Gefängnis exekutiert wurden.“ Er selbst habe sich nie an Demonstrationen gegen Assad beteiligt, sagt Abdelkarim.
Für das Stückchen Erde, auf dem er seine Hütte errichtet hat, muss Abdelkarim monatlich 5.000 libanesische Pfund (etwa 2,80 Euro) Miete bezahlen; an den Grundeigentümer, dem das Land gehört, auf dem das Camp errichtet wurde. Aber selbst dieser kleine Betrag ist manchmal schwer aufzubringen. Denn wie die allermeisten Leute im Camp hat Abdelkarim keine Arbeit und erhält auch keine Hilfe mehr von den Vereinten Nationen. Zwei- bis dreimal in der Woche bekommt er kleine Jobs, die gerade ausreichen, um Essen zu besorgen.
Lisa Abou Khaled vom libanesischen Büro des UNHCR kennt diese Situation: „Unser Budget ist begrenzt, deswegen müssen wir uns auf die Leute konzentrieren, die am dringendsten Hilfe benötigen“, erläutert sie. „Manchmal müssen wir die Hilfe für bestimmte Familien einstellen, um anderen helfen zu können, deren Situation noch schwieriger ist.“
Die Hälfte der syrischen Flüchtlinge im Libanon lebe unterhalb der Armutsgrenze von 2,90 USD pro Tag, sagt Abou Khaled. „Eigentlich brauchen alle diese Leute finanzielle Direkthilfe, aber unsere Mittel reichen nur für etwa 60 Prozent der Betroffenen.“
Ob er sich für die Zukunft vorstellen könne, nach Syrien zurückzugehen – Abdelkarim zuckt mit den Schultern: „Ich würde ja gern zurückgehen, aber es ist einfach nicht sicher. Die Leute sagen, der Krieg sei zu Ende, aber das stimmt nicht. Solang Assad an der Macht ist, wird der Krieg nie zu Ende sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“