: Die noch ein wenig mehr nichts haben
AUS MERIDIAN, MISSISSIPPI,SEBASTIAN MOLL
Das Capitol von Mississippi in Jackson hat kein goldenes Dach wie die Regierungssitze anderer Bundesstaaten. Das Parlament des ärmsten US-Staats residiert unter einem Gewölbe aus Gips, und an der Fassade bröckelt der Putz. Direkt gegenüber erstreckt sich wenig repräsentativ ein großes Industriegelände, in dessen Mitte zwischen abbruchreifen Hallen und einem Schlachthof verloren die zentrale Sportarena von Mississippi, das Coloseum, steht.
Seitdem am Montag Wirbelsturm „Katrina“ 150 Kilometer südlich von Jackson die Küste von Louisiana und Alabama verwüstet hat, ist das Coloseum Sammelstelle und Hauptquartier der Katastrophenhilfe. Auf dem Gelände haben sich hunderte von Wagen der Elektrogesellschaften der gesamten Region versammelt, um von hier aus so schnell wie möglich umgeknickte Überlandleitungen und verwüstete Trafostationen zu reparieren. Daneben parkt eine Armada von Reisebussen, Kranken- und Lastwagen, um Flüchtlinge zu transportieren und sie mit dem Nötigsten zu versorgen.
Etwa 1.200 Menschen lagern mittlerweile auf Matratzen und Feldbetten in der Halle. Rund um die Arena haben Rotkreuzhelfer Tische aufgebaut, an denen sie Zahnpasta, Seife, Damenbinden und Rasierschaum verteilen, sowie Malstifte und Comics für die Kinder. Die große Mehrzahl derer, die hier landen, haben nicht mehr als die Kleider auf ihrem Leib.
Vor der Halle liegen auf einem schmalen Grünstreifen zwei Männer – ein schwarzer und ein hispanischstämmiger. Auf die Frage, seit wann sie denn hier seien, wendet der junge Schwarze langsam den müden Blick und sagt zunächst in gebrochenem Englisch, dass er auf Fragen keine Antworten habe. Doch dann überlegt er es sich anders.
„Ich bin ein schwarzer Mann aus Louisiana“, hebt er zitternd an. „Das ist alles, was ich habe“, fährt er fort und zupft sich dabei an seinem fleckigen T-Shirt. „Ich komme aus Honduras. In New Orleans habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gearbeitet und etwas besessen. Jetzt ist alles weg, und meine Frau ist tot. Für den schwarzen Mann ist alles schwarz. Ich habe nur noch den Himmel“, sagt er und fällt in ein Schluchzen, das abgrundtiefe Hilflosigkeit auslöst.
Was nutzt ein voller Tank?
„Katrina“, so sagt man, seitdem hier der Notstand herrscht, hat alle gleich gemacht. Die Armen haben alles verloren, und die, denen es im armen Süden ein wenig besser ging, haben auch alles verloren. Und doch haben die einen nichts mehr, die anderen hingegen noch ein wenig mehr nichts.
So wie Dick Henderson, der sich im Foyer des Holiday Inn in der Nähe des Flughafens von Jackson mit der Rezeptionistin zankt, weil die Hotelleitung ihm gesagt hat, dass er nur noch bis zum Wochenende hier wohnen kann. „Ich habe einen vollgetankten Wagen“, sagt der Mann aus Pascagoula an der Golfküste nicht ohne Stolz, denn Benzin wird im Delta immer wertvoller – direkt gegenüber vom Hotel wartet eine kilometerlange Schlange vor einer ausgetrockneten Shell-Station auf den nächsten Tanklastzug. „Damit könnte ich zu meinem Bruder nach Alabama fahren – aber niemand kann mir sagen, ob die Straßen dahin offen sind.“ Das Risiko umkehren zu müssen und mit leerem Tank irgendwo liegen zu bleiben, ist ihm zu groß.
Aber immerhin, Henderson, dessen Heimatort zu 90 Prozent zerstört ist, hat noch sein Auto, eine Kreditkarte und die ganze Familie bei sich. Für ihn wird es, wie es der Präsident und die Gouverneure es unermüdlich versprechen, einen wie auch immer mühseligen und harten Neubeginn geben.
Für die beiden Männer, die auf dem glutheißen Parkplatz des Coloseums an einem Lastwagen auf die Ausgabe von Eiswürfeln warten, stehen die Chancen schlechter. Der eine, ein Schwarzer namens Floyd, trägt eine Gucci-Sonnenbrille unter seiner schnittigen Schiebermütze und verströmt einen unbeugsamen Optimismus. Er ist Fassadenbauer und hat in New Orleans ein Grundstück mit zwei Häusern – seines und das seines Bruders – zurückgelassen. Lieber heute als morgen möchte er dorthin zurück und alles wieder in Ordnung bringen. Und dann, sagt er, wird er das alles teuer verkaufen und sich nach Kalifornien absetzen, wo das Leben besser ist als im Süden. Sein Gefährte Hernando, ein Puerto-Ricaner, ist ebenso modisch gekleidet, aber nicht ganz so zuversichtlich wie Floyd. Der Koch und Ölfeldarbeiter ist unentschlossen, ob er zurück nach New Orleans soll oder ob er sich lieber hier oben etwas sucht.
„Es fehlt an allem“
Etwa hundert Kilometer östlich in Meridian hat das Rote Kreuz in einer Methodistenkirche etwa 600 Feldbetten für die von „Katrina“ nach Norden gepeitschten Heimatlosen aufgestellt. Der blitzsaubere Backsteinbau, dessen Glockenturm sogar mit Glasmalereien glänzt, passt nicht so recht in den tristen Ort, der aus ein paar Karrees baufälliger Straßen besteht. Und zu ihren neuen Bewohnern passt die Kirche schon gar nicht.
Am Seiteneingang gehen Kinder nackt ein und aus, und auch ihre Mütter haben oft außer Unterwäsche und einem T-Shirt nichts mehr anzuziehen. Zwei haben sich Klappstühle in die Sonne gestellt und schlürfen aus Styroporbechern Kaffee. Die Ältere der beiden starrt leer vor sich hin, ihre Stimme bleibt flach und monoton, während sie regungslos ihr Schicksal berichtet.
Am vergangenen Samstag haben sich ihre Mutter und ihre Tochter in Breaux Bridge (Louisiana) auf den Weg nach Norden gemacht. Sie selbst sei erst am Sonntag losgefahren, nachdem die Nationalgarde in Erwartung des Sturms Leichensäcke in den Ort geschafft hatte. Von ihrer Mutter und ihrer Tochter habe sie seitdem nichts gehört und nur im Internet gesehen, dass es ihr Haus nicht mehr gebe. Sie selbst, sagt die Frau verängstigt, habe kein Geld mehr, keine Kleider und keine Ahnung, was sie jetzt tun soll.
Immerhin hat das Rote Kreuz in Meridian vier psychologische Berater, die Menschen wie ihr helfen, Menschen, deren Lage mit einem Schlag ausweglos erscheint. Echte Hoffnung können die Therapeuten allerdings auch nicht herbeizaubern – bestenfalls nur das Schlimmste verhindern. Etwa, dass sich, wie ihm Stadion von New Orleans, jemand von der obersten Tribüne stürzt oder auf einen Helfer losgeht. Überhaupt geht es im Moment im Mississippidelta nur darum, irgendwie über das Schlimmste hinwegzukommen.
Und das ist schwer genug. „Es fehlt an allem“, klagt Donald Neece, der Einsatzleiter des Roten Kreuzes in Meridian, ein pensionierter Luftwaffenpilot. „Wir haben nicht genug Kleidung, nicht genug Decken, nicht genug Betten und nicht genug Essen. Wir brauchen dringend Spenden.“ Und vor allem fehle Geld. „Ich kann nicht einfach in einen Laden gehen und Milch kaufen, wenn ich sie brauche – das ist ein riesiges Problem.“
Der Exoffizier glaubt wie viele hier, dass die Bundesregierung zu spät zu wenig getan habe. Auf den medienwirksamen Flug von George W. Bush über die Golfküste und seine anschließenden Durchhalteparolen gibt Neece wenig. „Er ist Politiker. Er sagt, was die Leute hören wollen. Solange er mir nicht zehn Dollar in die Hand drückt, nützt das nichts.“
Hinter der Kirche hat ein kleiner blonder Junge einen bunten Plastikball gefunden. Vom tagelangen Nichstun und von der gedrückten Stimmung der Erwachsenen mürbe geworden, sucht er jemanden, der ihm eine Weile lang den Ball zuwirft. Wäre hier doch nur jedem so leicht zu helfen.
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