Kommentar Opposition in der Türkei: Letzte Ausfahrt vor der Diktatur
Vier Oppositionsparteien bilden bei der Parlamentswahl ein gemeinsames Bündnis. Das könnte TürkInnen mobilisieren, die schon resigniert haben.
E s ist eine Weggabelung: „Entweder wir schaffen es jetzt, Erdoğan zu stürzen, oder es kommt eine zehnjährige Ein-Mann-Herrschaft auf uns zu“, fasste Selahattin Demirtaş, der inhaftierte Präsidentschaftskandidat der kurdisch-linken HDP, die Bedeutung der am 24. Juni bevorstehenden Präsidentschaftswahl in der Türkei kurz und treffend zusammen.
Mit dem Referendum über die Einführung des Präsidialsystems hat der amtierende Präsident Erdoğan im April des vergangenen Jahres die Bündelung der Macht in einer Hand vorbereitet. Mit der jetzigen Präsidentenwahl wird die neue Verfassung in Kraft treten. Dann gibt es keinen Ministerpräsidenten mehr, und das Kabinett, das Militär und letztlich auch die Justiz werden nur noch auf das Kommando des Präsidenten hören.
Erdoğan hat das Wahlgesetz zu seinen Gunsten verändert, Wahlgeschenke verteilt und eine Wahlallianz mit der ultrarechten MHP geschlossen, damit er die Stimmen, die der AKP für ein 50-Prozent-Ergebnis fehlen, bei den Nationalisten einsammeln kann. Nicht zuletzt hat Erdoğan die Wahlen um gut eineinhalb Jahre vorgezogen, weil er befürchtet, bis Herbst 2019 könnte die Wirtschaft eingebrochen sein und die Opposition stark genug, um ihn ernsthaft zu gefährden.
Vier wichtige Oppositionsparteien treten nun mit einer gemeinsamen „Volksallianz“ bei der Parlamentswahl an. Für die Präsidentschaftswahl haben sie eigene Kandidaten ernannt, aber zumindest die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die neue rechtsnationale İyi-Partei haben sich in die Hand versprochen, den jeweils anderen Kandidaten, der im ersten Wahlgang am stärksten ist, bei einem möglichen zweiten Wahlgang gegen Erdoğan zu unterstützen. Der populäre Demirtaş wird außerdem viele Linke mobilisieren, die ohne ihn bei der Wahl wohl zu Hause geblieben wären.
So wenig erfolgversprechend der Kampf gegen Erdoğan auf den ersten Blick aussieht, es scheint, als könnte die Opposition tatsächlich noch einmal auch alle die Türken und Türkinnen mobilisieren, die eigentlich schon resigniert hatten. Fünfzig Tage Powerplay hat Muharrem İnce versprochen, als die CHP seine Kandidatur verkündete – und am Samstag auch gleich damit begonnen. Er forderte, seinen Konkurrenten Demirtaş für den Wahlkampf aus dem Gefängnis freizulassen, was demokratisch richtig, aber auch taktisch sinnvoll ist, um sich in einem zweiten Wahlgang die kurdischen Stimmen zu sichern.
Erdoğan ist nicht mehr unverwundbar. Sein autoritäres islamistisches Regime hat viele abgestoßen, die früher mit ihm sympathisiert haben. Es wird noch einmal spannend in der Türkei.
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