Zum Dutschke-Attentat vor 50 Jahren: Rudi Dutschke, Frau Ridder und ich
Wie das Leben 68 in Berlin war: Über Dutschke, druckende Revolutionäre, die Liebe eines 14-Jährigen und eine Begegnung mit dem Tod.
Sie war 25 und träumte von der Weltrevolution.
Ich war 14 und träumte von Frau Ridder.
Dorothea Ridder, die da oben in der Dachgeschosswohnung wohnte? Früher hätte ich das mit einem „Nein“ beantwortet. Heute sagt man das Nein verschleiernd gern „nicht wirklich“. Nun zur „Wirklichkeit“ des Jahres 67: Frau Ridder wohnte zu der Zeit in Wirklichkeit am Kurfürstendamm im selben Haus wie Dutschkes. Also mit Rudi und Gretchen.
Oft kam Dorothea von ihrem Bardamenjob dementsprechend früh nach Haus. So traf sie nicht selten und übermüdet auf Rudi. Er war Frühaufsteher. Früh links erwachen hieß bei ihm aber nicht rechts am Wegesrand sexuell alles „mitnehmen“. Rudi hatte Gretchen (Theologie-Studentin aus den USA). Genossin Dorothea liebte Revolutionäre. Aber schön mussten sie sein. Ob zu zweien oder allein. Sie schlief nicht mit Rudi und prinzipiell selten in der Nestorstraße. Auch wenn an der Türklingel Ridder stand. Denn so mancher Wohnungsinhaber ahnte anno 67 nichts von linken Aktivisten als Untermieter. Auch Uwe Johnson, der zu dieser Zeit in Amerika lebte, hatte seine Wohnung in Friedenau untervermietet; ein berühmtes Nacktgruppenfoto entstand dort in seiner Abwesenheit. Ob diese Behausung auch von Frau Ridder organisiert worden ist, weiß ich nicht.
Allgemein weiß man rückblickend, dass diese Wohnungsbeschaffungen zwecks Untergrundarbeit von der Justiz peu à peu entdeckt und bestraft worden sind. So wurde Hannes Wader zum Beispiel verdächtigt, seine Wohnung Terroristen zur Verfügung gestellt zu haben. Hannes beteuerte immer wieder, dass er von der RAF als seinen „Gästen“ nichts gewusst habe. Als bekennendes DKP-Mitglied erlebte er bald darauf durch die ihn nicht mehr spielenden Sender eine künstlerische „Isolationshaft.“
Dorothea Ridder: Revolutionärin, Gefangene, Ärztin
Dorothea Ridder hingegen sollte die reale durchleben. Im Jahr 1971 verhaftet, wurde sie für ihre stillen Aktivitäten mit Gefängnis bestraft. Zunächst als „Randfigur“ bezeichnet, anno 72 wieder frei, dann wiederum inhaftiert, hatte sie die einjährige Isolationshaft als Unterstützerin einer „kriminellen Vereinigung“ (gemeint ist die RAF) gut genutzt: Sie arbeitete an ihrem Studium hinter Gittern und bestand 1976 das „ärztliche Staatsexamen“. 1980, nun bereits eine volksnahe Frau Doktor, wird sie aber auch dem todkranken Dichter Erich Fried erfolgreich das Leben um fünf Jahre verlängern.
Frau Dr. Ridder war eben mehr mit dem Leben als mit der Todessehnsucht beschäftigt. Mit der „Knarre in der Hand“ aus revolutionären Gründen eine Bank zu stürmen, sei nicht „ihr Ding“ gewesen, erzählte sie bereits 2008 neben vielen anderen zutiefst berührenden Details der Publizistin Gabriele Goettle. Dass Dorothea während jener Kölner Isolationshaft mit Unterstützung eines mit ihr immer „äußerst höflich“ umgehenden Wachpersonals hatte weiterstudieren können, passt zu der Frau mit der noblen Wirkung. Nur RAF-Terroristin Gudrun Ensslin war von Anfang an nicht zufrieden mit Genossin Ridder. Sie habe anstelle der Revolution doch eher ihr Studium im Kopf gehabt, hatte sie zu Protokoll gegeben. Dieser Art „schlechter“ Leumund, kam dann Dorothea in Form von Strafmaß und vorzeitiger Entlassung zugute. Dass Frau Ridder auch Mitbegründerin der legendären Kommune 1 war, galt als nicht strafbar, wenn auch sündenvoll verwerflich; ich wusste anno 67 nichts von ihrer unbürgerlichen Umtriebigkeit.
Berlin taz Ob er sich eigentlich bedroht fühle? Rudi Dutschke reagiert betont gelassen auf die Frage, die ihm Anfang April 1968 ein Journalist stellt. Er fühle sich „persönlich überhaupt nicht bedroht“, antwortet der 28-jährige undogmatische Sozialist, der für die Öffentlichkeit der Inbegriff studentischen Aufbegehrens und der antiautoritären Revolte ist. Es ist sein letztes Interview, bevor es geschieht.
Am Morgen des 11. April 1968 macht sich Josef Bachmann auf die Suche nach Rudi Dutschke. Er befragt Taxifahrer, klingelt bei der Kommune I an, wo ihn Rainer Langhans auf das SDS-Zentrum am Kurfürstendamm verweist. Dort geht er am Nachmittag hin.
Bachmann ist viereinhalb Jahre jünger als Rudi Dutschke und stammt ebenfalls aus der DDR. Der Kleinkriminelle ist Waffennarr mit Verbindungen in die Neonaziszene. Im Gepäck hat er einen Revolver und einen Artikel aus der Deutschen National-Zeitung mit der Überschrift: „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg.“
Um 16.35 Uhr begegnen sich Bachmann und Dutschke am Kurfürstendamm. „Sind Sie Rudi Dutschke?“, fragt Bachmann. Der zögert, dann antwortet er: „Ja.“ Bachmann zieht seinen Revolver und schießt dreimal. Der erste Schuss geht in die Wange, dann – Dutschke liegt bereits am Boden – trifft er den Kopf und die Schulter.
Während Bachmann davonläuft, richtet sich der schwerverletzte Dutschke noch mal auf und torkelt blutverschmiert ein paar Meter, bis er zusammenbricht. Passanten betten ihn schließlich auf eine Parkbank vor dem SDS-Zentrum. Halb besinnungslos schreit er nach Vater und Mutter, ruft „Mörder“, „Ich muss zum Friseur“ und „Soldaten, Soldaten“. Die Reaktionen von Vorbeigehenden fallen unterschiedlich aus. Einige sind sichtlich betroffen. Doch nicht alle. „Sieh mal an, wenn’s ans Sterben geht, ruft sogar der nach Vater und Mutter“, sagt einer.
Die Flucht Bachmanns dauert nicht lange. Ein paar Straßen weiter kann ihn die Polizei nach einem Feuergefecht festnehmen. „Ich war so im Hass, ich hatte so eine Wut“, wird er später als Motiv für seine Tat angeben. Am 24. Februar 1970 bringt er sich im Gefängnis um. Zu seiner Beerdigung schickt Dutschke einen Blumenstrauß mit der Aufschrift: „Ein Opfer der Klassengesellschaft.“
Dutschke überlebte mit schweren Hirnverletzungen – zunächst. In Notoperationen können ihm die beiden Kugeln aus seinem Kopf entfernt werden. Aber elf Jahre später erweisen sich die Schüsse doch noch als tödlich: Am 24. Dezember 1979 erleidet Dutschke einen epileptischen Anfall – eine Spätfolge des Anschlags. Er ertrinkt in seiner Badewanne. Am 3. Januar 1980 wird er auf dem Berliner St.-Annen-Kirchhof beigesetzt. Pascal Beucker
Ich versuchte, mit meinen Trieben umzugehen. Gerade mal so alt wie meine damalige Hausnummer, 14, beneidete ich die Ridder’schen Dachetagenrevoluzzer. Eines Tages beschwerte sich mein Vater bei den „Herrn Ridders“, dass sie nicht noch einmal unsere Wohnung in den Ferien benutzen mögen; denn als wir überraschend vor Schulferienende nach Hause kamen, lagen Decken und Essensreste herum. Die Asylanten hatten fluchtartig unsere Wohnung verlassen. Vorgewarnt. Unser alter Opel war aber auch dermaßen laut. Apropos Lärm: Ein regelmäßig nachts einsetzender Maschinenkrach hatte kurz nach Einzug der „Ridder-Brothers“ meinen Vater veranlasst, mal oben zu klingeln. Als ehemaliger Widerstandskämpfer, der einst Flugblätter gegen Hitler in Bibeln versteckt hatte, war ihm der Sound einer Druckmaschine gut vertraut. „Das ist eine Waschmaschine“, meinte einer der Männer mit Pokerface. „Dann wascht bitte am Tag, Genossen“, sagte Papa und grinste.
Eine Lübke-Langspielplatte bricht das Eis
Man gab sich ahnungslos und wurde erst locker, als keine Polizei kam. Direkt fröhlich gaben sich die Männer aber erst, als ich regelmäßig eine verbotene Schallplatte spielte, die bis nach oben ins Dachgeschoss drang: Eine Verscheißerungs-LP mit dem stammelnden Bundespräsidenten Lübke. Er avancierte – stotternd und stammelnd Osaka mit dem Potenzmittel Okasa verwechselnd – zum Staatstrottel. Mein Vater fragte eines Tages einen dieser Mitbewohner, weshalb er und die anderen uns jetzt so freundlich grüßten. Darauf der eine: „Wer die Lübke-LP hört, kann nicht ganz schlecht sein.“ Auch Frau Ridder, die Schöne, grüßte mich auffallend lieb. Und es war Frühling, und als ich an jenem 11. April vom Balkon aus die Schöne über die Straße gehen sah … mit ihrer leuchtend roten Baskenmütze und diesen grünen Augen … Lassen Sie es mich so ausdrücken:
Ach!
In solchen Momenten war meine elterliche Mülltonne dermaßen voll, auch wenn sie leer war, und so wurde Fahrstuhlfahren selbsterfahrenes Glück. Auch war für mich, mit 14 von einer Frau Ridder gesiezt zu werden, schon hoffnungstreibend. Nun hatte sie jedoch an diesem Nachmittag kein Lächeln für mich parat wie sonst. Stattdessen fragte sie mich: „Sie wissen, was passiert ist?“ Worauf ich reflexartig nickte und „nein“ sagte. Worauf sie – atemberaubend dicht mit mir im Lift – man kennt die alten Berliner Fahrstühle – nun leise fortsetzte: „Rudi Dutschke ist erschossen worden.“ Dass er die Schüsse überleben sollte und nach quälenden Jahren daran dann doch noch zugrunde gehen sollte, ahnte ich nicht. Frau Ridder auch nicht. Ich wusste von Dutschke nichts, was mir wirklich hätte bewusst machen können, wer dieser Mann war oder was er den Linken bedeutete.
Der Vater: Was will dieser Dutschke?
Dieser Dutschke war meinem Vater gewiss verhasst – als Utopist. Denn die hätten ja schon als Partisanen im Spanienkrieg 1936 gegen Franco versagt, sagte Papa immer. Und überhaupt: Jetzt sei Friede! Die Arbeiter seien heutzutage satt und hätten ihr gutes Auskommen. „Was wollen die also? Diese Dutschkes?! Als marxistisch geschulter Proletarier und Untergrundkämpfer, der fast 10 Jahre im Zuchthaus und KZ gesessen hatte, waren ihm diese akademisch geprägten Reden Dutschkes ein Gräuel.
Zurück zur Liftfahrt mit Frau Ridder:
Noch ganz vom Duft ihres Parfums betört, dennoch leicht verstört, stotterte ich kurz darauf in der Küche vor Papa: „Der Rudi Dutschke ist erschossen worden.“ Mein Vater sagte: „Idiot“, worauf ich mich beleidigt von ihm abwandte. Er streichelte mir liebevoll über den Kopf: „Du doch nicht, Eierkopp!“. Sein „Idiot“ bezog sich auf den Attentäter. Und als sich des Abends in der „Tagesschau“ jener Attentäter als Neonazi entpuppte, fühlte sich Vater mit seinem spontanen „Idiot“ bestätigt.
Dennoch gab es für ihn keinen Grund, als zwar enttäuschter Marxist und DDR-Flüchtling wegen des Attentats diesen „marxistischen Träumer“ zu akzeptieren. Als Opfer tat ihm Dutschke leid. Aber politisch? Zu Dutschke-Zitaten wie: „Der Kampf allein bringt die Herstellung des revolutionären Willens“, sagte er zornig: „Hirnverbrannter Blödsinn. Erst wenn ein unzufriedenes Volk durch Krieg bereits die Waffen in den Händen hält, ist die Basis für eine Revolution gegeben. Merk dir das!“ Ich nickte und nahm brav zur Kenntnis, wann es sich nach marxistisch-leninistischer Sicht um die richtige Stunde zur Revolution handelte; vor allem aber, dass die „Verhältnisse“ jetzt nun mal nicht so seien wie anno 17, geschweige 18! Denn ich dachte mit 14 sowieso nur an ein Verhältnis mit Frau Ridder. So viel zu meiner Utopie anno 67.
Zwanzig Jahre später:
Nun schon selbst über 30, machte ich durch den englischen Filmemacher Andrew Hood mit seiner weitaus älteren Freundin Bekanntschaft: Dorothea Ridder. Ich betrat ihre Wohnung, es gab Tee und Gebäck, und zunächst erkannte ich sie nicht. Sie war krankheitsbedingt optisch verändert, dennoch attraktiv.
Zum Gedenken an Rudi Dutschke
Inmitten ihres wichtigsten Themas als Ärztin stockte sie plötzlich und sagte übergangslos und mehr fragend: „Moment mal … Nestor 14? Fahrstuhl? Rudi?“ Ich nickte. Dann strich sie mir mit zwanzigjähriger Verspätung über die Wange. Damals war ich der Junge. Jetzt hatte sie etwas von einem Mädchen. Mister Hood blickte sehr still, also englisch, zu Boden.
Rückblickend weiß ich, dass Dorothea Ridder anno 67 gern mit dem Ehepaar Dutschke frühstückte. Die drei mochten sich. Und ich mag noch immer die Vorstellung, wie der kleine schmale Rudi einst die morgendlichen Freier verjagte. Denn Dorothea war am Abend Bardame, aber keine Dame gegen bar.
Wie aus einem Truffaut-Film das Ganze, wenn die Handelnden nicht ganz so deutsch wären. Und immer mittenmang: Dorothea, (wohnzimmerbesorgende Genossin; auch sonst besorgt-bürgerlich). Dennoch Mitbegründerin der Kommune 1. Legendär jenes Foto: Nackt wie die Wand sind sie alle und gänzlich gesichtlos; bis auf’s Kind rechts am Bildrand. Nackter Mann, links, fragt verärgert: „Wo bleibt eigentlich Rudi?“ „Kommt nich’, frühstückt mit Gretchen“, sagt Dame links, und lächelt.
Aber das sehen wir nicht … Ein Nacktfoto gibt niemals alles her.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Unwetterkatastrophe in Spanien
Vorbote auf Schlimmeres
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Jaywalking in New York nun legal
Grün heißt gehen, rot auch
Schließung der iranischen Konsulate
Die Bundesregierung fängt endlich an zu verstehen
Steinmeiers Griechenland-Reise
Deutscher Starrsinn