Debatte Autoritärer Nationalismus: Führertypen in der Trutzburg

Orbán, Erdoğan & Co: Der globale Erfolg des autoritären Nationalismus ist vor allem eine Reaktion auf einen aggressiven Kapitalismus.

Illustration einer Gestalt, die Geld magnetisch anzieht

Die Ansage der autoritären Nationalisten ist nicht, die kapitalistische Globalisierung zu stoppen. Sie wollen die Globalisierungsgewinne nur nicht mehr teilen Illustration: Eléonore Roedel

Seit geraumer Zeit raufen sich Gelehrte die Haare, um eine Erklärung für den vermeintlich weltweiten Siegeszug autoritärer Herrschaften zu finden. Sie beschränken sich dabei häufig auf den Rechtspopulismus als Erklärung. Damit können sie die Vielfalt und die Zeitgleichheit rigoros bevormundender Systeme jedoch kaum begreiflich machen. Putins Russland, Xis China, Trumps USA, Orbáns Ungarn, Modris Indien und Erdoğans Türkei – um nur einige zu nennen – sind mit dem Deutungsmuster „globalisierter Rechtspopulismus“ jedenfalls nicht hinreichend zu verstehen.

Eine umfassendere Interpretation beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen radikalökonomischer Globalisierung und autoritärem Nationalismus. Demnach schafft die spezifische Form, in der sich in den einzelnen Staaten die Globalisierung vollzogen hat, einen idealen Nährboden für den Erfolg „charismatischer“ Führertypen. Diese inszenieren eine Wehrhaftigkeit gegenüber „anstürmenden Gefahren“ und stimmen mit ihren Anhängern darin überein, dass nur ein starker Mann die Trutzburg schützen kann.

Um eine solche Entwicklung besser verstehen zu können, muss man die (nach wie vor dominante) Idee der nationalen Souveränität näher betrachten: Der Nationalstaat lebt von der Vorstellung, politische Angelegenheiten – auch im wirtschaftlichen Bereich – selbstbe­stimmt zu gestalten. Seit Langem wird diese Idee jedoch ausgehöhlt. Klimawandel und Migration sind keine rein ­nationalstaatlich lösbaren Angelegenheiten, und technische Globalisierung schert sich nicht um nationale Souveränität. Smartphones plus Social Media haben noch alle nationalen Grenzen überschritten, und die autonom fahrenden Autos werden folgen. Genauso wird die Digitalisierung zügig alle Volkswirtschaften durchdringen, ganz egal, ob in Chile oder in Südafrika, in Portugal oder in Vietnam.

Der Nationalstaat mit seinem Souveränitätsanspruch bemüht sich zwar darum, auch hierfür Regeln zu generieren, doch häufig sind diese von bescheidener Wirkung und können die von dem Ökonomen Joseph Schumpeter treffend als Grundprinzip des Kapitalismus beschriebene „schöpferische Zerstörung“ nicht aufhalten. Betroffene Menschen fühlen sich, bei allen auch positiven Änderungen, der kalten Zugluft dieser ökonomischen Globalisierung oft schutzlos ausgeliefert. Die extreme Beschleunigung der technologischen Entwicklung, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung, versetzt viele in Schrecken und führt zu Ver­lust­ängsten und einer existenziellen Verunsicherung. Wo werde ich morgen stehen, wo meine Kinder, wo die Gesellschaft? Die Unplanbarkeit der Zukunft hat sich in ihren Augen ins Extreme gesteigert und wird als ungebremste Fahrt in einen dunklen Tunnel wahrgenommen.

Arbeitsplatz- und Standortabbau

Doch nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung verängstigt die Menschen, sondern auch die aggressive Form wirtschaftlicher Globalisierung. Globale Konzerne bekämpfen sich zusehends bis aufs Messer, um einem Konkurrenten Paroli zu bieten. Sie scheuen nicht davor zurück, die Produktion dorthin zu verlagern, wo sie die kostengünstigsten Strukturen vorfinden, und ziehen wie moderne Nomaden heute von Bangladesch nach Äthiopien und morgen nach Kuba. Die Globalisierung hat seit den 1980er Jahren ein alles beherrschendes und vielfach beschriebenes „Hemd“ an: das des ungezügelten Kapitalismus. Diese kapitalistische Landnahme hat unterschiedliche Formen, im Westen etwa ist es der Neoliberalismus, in China hat sich die paradoxe Form des kommunistischen, besser gesagt: des von einer Partei gelenkten Staatskapitalismus durchgesetzt. Gerade durch diesen Wettstreit verschiedener kapitalistischer Varianten ist die Welt jedoch zu einem Ort geworden, in dem immer rücksichtsloser um Marktanteile gerungen wird.

Eine große Anzahl von Menschen erlebt diese Auseinandersetzungen in den wirtschaftlichen Kampfzonen am eigenen Leib. Wenn ein internationaler Konzern Arbeitsplätze an einem Standort abbaut, um an anderer Stelle zu für ihn günstigeren Konditionen neue Produktionsstätten hochzuziehen, ist die viel beschworene „soziale Verantwortung“ oft nur Teil von Sonntagsreden. Und man unterschätze nicht, welche disziplinierende Wirkung die Schließung eines größeren Werks auf Hunderttausende von Arbeitnehmern hat – nicht nur auf die Blue Collar, sondern auch auf die White Collar worker, also auf den Großteil der Mittelschichten. Denn diese wissen damit: Der Nächste kann ich sein. Das Beispiel Siemens in Görlitz findet sich sozusagen in allen Ländern.

Der jeweilige Nationalstaat ist diesem „globalen Spiel“ nahezu machtlos ausgeliefert. Es ist für jedermann erkennbar, welchen „allgemeinen Verlust der ökonomischen Souveränität“ Nationalstaaten zu erdulden haben, so der indische Ethnologe und Globalisierungsforscher Arjun Appadurai. Die Übernahme eines 10-prozentigen Anteils an Daimler durch einen chinesischen Milliardär illustriert diese Entwicklung als Pars pro Toto.

Der alte Chauvinismus

Und genau in diesen Zeiten, in denen eine weltumspannende, als kriegerisch zu betrachtende Rivalität ausgetragen wird und alle Gesellschaften deswegen unter Druck stehen – nicht zuletzt deshalb, weil sich Ungleichheiten erheblich verschärfen –, in diesen Zeiten treten zunehmend „Anführer“ auf die politische Bühne. Sie behaupten, dass auch ökonomische nationale Souveränität wieder gestärkt werden kann. Ihre Ansage ist nicht, die kapitalistische Globalisierung zu stoppen, ihre Beteuerung ist vielmehr, die daraus resultierende Dynamik auf nationaler Ebene steuern und Globalisierungsgewinne nicht mehr teilen zu wollen. Das Wasser der Globalisierung soll sozusagen über die Mühlen des Protektionismus ins eigene Gefolgschaftslager fließen. Trump liefert dafür gerade die besten Beispiele.

Was dabei in modernen Gewändern daherkommt, ist jedoch der alte nationalistische Chauvinismus. Angeführt in aller Regel von einer narzisstischen Persönlichkeit, deutbar als Verkörperung einer In-Group, wird eine autoritäre Politik verfolgt, bei der „Demokratie“ zum Lippenbekenntnis verkommt und instrumentalisiert wird. Das Versprechen lautet, dass von nun an die Privilegien und der (relative) Wohlstand der sich als etabliert Wahrnehmenden – der „Ureinwohner“, der „wirklichen Gläubigen“ oder des „wahren Volks“ – wiedergewonnen beziehungsweise geschützt werden. Der französische Publizist ­Alexis de Tocqueville würde hier von der klassischen Tyrannei der Mehrheit sprechen.

Doch darf man sich diese Gefolgschaft nicht als passives Objekt, geblendet und verführt von einem Rattenfänger, vorstellen. Was wir in aller Regel sehen, ist eine Übereinstimmung zwischen Angeführten und Anführer. Er ist es, der die als berechtigt wahrgenommene Bevorzugung der Anhänger aufrechterhält oder wiederherstellt. Getreu der Devise „Halte mir die Welt vom Leibe!“ haben sie kein Problem mit einer radikalökonomischen Globalisierung, solange sie ihnen von Nutzen ist und negative Konsequenzen in andere Länder ausgelagert werden. Leidtragende eines „Raubtierkapitalismus“ sind also simultan durchaus oft auch Leidverursachende, die ihre Sonderrechte konservieren wollen. Die Zuweisung von Opfer- und Täterrollen entbehrt daher häufig der Eindeutigkeit.

Ein weiteres Versprechen ist die „Rückgabe des gerechtfertigten Stolzes“ und die Betonung der Großartigkeit der jeweiligen Nation. Niemand solle es mehr wagen, einen Russen, Chinesen, Türken, Polen etc. auch nur scheel anzuschauen. So atavistisch und archaisch dieses aggressive Stammesdenken – inklusive ausgeprägten Führerkults – erscheinen mag, so modern und wirkmächtig ist diese Strategie nach wie vor.

Äußere und innere Feinde

Des Weiteren werden zwei Arten von Feinden bestimmt: Zu inneren Feinden werden in aller Regel die erklärt, die sich nicht einfügen in die Gleichschaltungspolitiken, wie wir sie in all diesen nationalistischen Harte-Hand-Regimen gegenwärtig beobachten können. Dazu genügt es bereits, die Politik des „Gebieters“ zu kritisieren. Entsprechend ausgebaut sind dort die oft sehr modernen Überwachungs- und Kontrollsysteme. Das gilt in unterschiedlichen Graden für China und Russland ebenso wie für Ungarn oder die Türkei, durchaus aber auch für die USA. Ein äußerer Feind ist den majestätisch Auftretenden immer hilfreich, weil er die Binnengruppe der Gefolgsleute zusammenschweißt. Das können die „vergewaltigenden Mexikaner“ genauso sein wie Kurden in Syrien. Eine Kriegsdrohung oder die tatsächliche Anwendung militärischer Gewalt ist eine probate Möglichkeit der neuen rigiden Machtherrscher, zu beweisen, dass sie nationale Souveränität aufrechterhalten können. Dass damit die Kriegsgefahr, global gesprochen, deutlich ansteigt, wird hierbei billigend in Kauf ge­nommen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Als Fazit lässt sich feststellen, dass die beschriebenen Muster auch bei vielen Analysen des Rechtspopulismus auffindbar sind, dass sie aber in einen breiteren Erzählrahmen integriert gehören: den eines nationalistischen Hardlinertums in kapitalistischen Gewändern. Der nun auf Lebenszeit zum Autokraten gemachte Xi Jinping etwa lässt sich kaum als Rechtspopulist deuten, als ein autoritärer kapitalistischer Nationalist jedoch allemal.

Die Prognose des US-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama von 1989, liberale Demokratien und kapitalistisch organisierten Wirtschaftssysteme hätten sich als Paar dauerhaft durchgesetzt, hat sich als falsch erwiesen. Doch auch die Symbiose zwischen autoritärem Nationalismus und verschiedenen Spielarten des Kapitalismus wird nicht das Ende der Geschichte sein. Eine solche Regression lässt sich jedoch nur verhindern, wenn wir, die Anhänger liberaler Demokratien und offener Gesellschaften, diese mit aller Vehemenz verteidigen.

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lehrt Politikwissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

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