: Erinnerungen an früher
Geschichte in der Gegenwart: Genozide, an denen Deutsche beteiligt waren, werden in der Galerie des Weddinger „August Bebel Instituts“ untersucht
Von Linda Gerner
Weiße Tücher hängen von der Decke und kreieren einen schmalen Raum. Man sieht einen Bildschirm mit einem langsam wechselnden Bild aus Farben. Verschiedene Stimmen und Sprachen sind zu hören. „Ist Genozid ein wichtiges Thema für unsere Gegenwart? Wenn ja, warum wissen wir alle so wenig?“, wird hier gefragt. „Es könnte immer wieder passieren“, hört man einen jungen Mann sagen und „Die Menschen verhungerten“, eine ältere Person. Dann öffnet jemand die Tür der Galerie, und der Straßenlärm der Müllerstraße verschluckt die Stimmen. Die Autos werden leiser: „Völkermord? Nein, darüber kann ich nicht viel sagen, tut mir leid.“ Eine Umfrage unter Passant*innen, Freund*innen, Bekannten. Die Klanginstallation „Weiße Tropfen in klares Wasser“ soll eine Annäherung an das Thema Genozid sein und eine Einladung an die Besucher*innen, sich zu fragen: Was hat es mit mir zu tun?
„Ich denke, dass es eine große Hemmschwelle gibt, sich mit dem Thema zu beschäftigen, sich darauf einzulassen. Denn natürlich hat das Thema Völkermord immer etwas mit Schmerz und Trauer zu tun“, sagt Marie Hecht. Sie ist eine von elf Teilnehmer*innen einer Fortbildung mit dem Titel „Not about us without us“ vom August Bebel Institut. Ein halbes Jahr lang hat sich die Gruppe mit vier Völkermorden im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt: Mit dem Genozid in Deutsch-Südwestafrika an den Herero und Nama durch die deutsche Kolonialmacht von 1904–1908, mit dem Völkermord an den Armenier*innen ab 1915 im Osmanischen Reich und mit den Verbrechen im Nationalsozialismus an Jüdinnen und Juden und Sinti*ze und Rom*nja.
Die Ausstellung sollte die Geschichte aus Sicht der Betroffenen zeigen. Doch den Teilnehmenden der Fortbildung wurde schnell bewusst: „Hier herrschte eine Ambivalenz, denn die meisten aus unserer Gruppe sind keine Nachfahren von Betroffenen“, sagt Marie Hecht. Also thematisieren sie in der Ausstellung „Umkämpfte Erinnerungen“ auch ihre eigene Gruppe von Künstler*innen, Historiker*innen und Bildungsreferent*innen und setzen „dort an, wo wir uns tatsächlich alle als Beteiligte und Betroffene sehen: im Prozess des Erinnerns.“
An welchen Orten wird in Berlin an die Völkermorde erinnert? Eine Fotogalerie zeigt Denkmäler in der Hauptstadt. Darunter ist der Namibia-Gedenkstein am Garnisonsfriedhof in Neukölln. Der Prozess, bis zu seiner Einweihung im Oktober 2009, ist exemplarisch für den Titel der Ausstellung: Die Erinnerung an die zirka 10.0000 ermordeten Herero und Nama in Namibia während der deutschen Kolonialherrschaft gibt Anlass zu Kontroversen. Seit 1907 steht auf dem Friedhof ein Feldstein für sieben Berliner Soldaten, die im Kolonialkrieg ihr Leben verloren und als Helden verehrt wurden. Nach jahrelangen Protesten von Aktivist*innen fügte der Stadtbezirk einen Gedenkstein an die „Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia 1884–1915“ hinzu – der Begriff „Genozid“ wurde gestrichen. Erst im Juli 2016 wurde von der Bundesregierung die Ermordung der Herero und Nama als Völkermord eingestuft. Reparationszahlungen blieben jedoch aus.
In der Galerie informieren drehbare Infocubes über die vier Massenverbrechen: „Wenn man wenig über Völkermorde weiß, kann das ein Hindernis sein, sich diesem schweren Thema zu widmen. Mit der Ausstellung wollen wir die Menschen einladen, sich mit der Geschichte zu beschäftigen und so eine mögliche Wissenshierarchie ein Stück weit abbauen“, so Marie Hecht. Die Galerie bietet dazu verschiedene Stationen an: In Video- und Hörstationen erzählen Zeitzeug*innen, es werden provokante Fragen gestellt, wie „Ist man Antisemit aus Tradition?“ und ein Stadtplan Berlins an der Wand reflektiert städtische Erinnerungskultur.
„Umkämpfte Erinnerungen“, bis 29. März in der August Bebel Galerie, Müllerstraße 163; Mo. bis Do., jeweils 14–18 Uhr, Fr 16–20 Uhr
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