Marco Carini über die G20-Öffentlichkeitsfahndung: Hetzjagd als Volkssport
Es gehört zu den Aufgaben von Polizei und Staatsanwaltschaft Straftäter aufzuspüren. Und es gehört zu ihren Pflichten, dabei die Grundrechte der Verdächtigen, für die bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung gilt, auch im Ermittlungsverfahren zu respektieren.
Die aktuelle Öffentlichkeitsfahndung lässt diesen Grundsatz außer Acht. Sie darf laut Strafprozessordnung nur das allerletzte Mittel sein um – heruntergebrochen auf jeden Einzelfall – „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ aufzuklären. Deshalb wird die Öffentlichkeitsfahndung traditionell sehr zurückhaltend und vorwiegend bei Tötungsdelikten und schwerem Raub eingesetzt, aber eben nicht bei Landfriedensbruch, versuchter Körperverletzung oder Diebstahl. Die Bambule während der G20-Tage dient den Sicherheits-Behörden nun zum wiederholten Mal dazu, die Grenzen des Rechtsstaats bis zur Unkenntlichkeit desselben zu dehnen.
Viele Medien machen sich dabei zu willfährigen Hilfssheriffs. Ohne überprüfen zu können, ob gegen jede der zur öffentlichen Fahndung ausgeschriebenen Personen ein ausreichender Tatverdacht für eine schwere Straftat vorliegt, veröffentlichen sie mit sichtbarer Begeisterung die Fotos der mutmaßlichen G20-TäterInnen. Sie vorverurteilen sie als Chaoten, Gewalttäter Plünderer und Schläger oder eben – mit sexistischer Konnotation – Krawall-Barbie.
Diese Inszenierung ist eine Aufforderung an die Bevölkerung, zu Privatfahndern zu mutieren. Ist mein Nachbar unter den Abgebildeten? Oder einer von denen, die immer vor diesem linken Jugendzentrum herumstehen? Verdacht ist überall und es wird zum Volkssport, eine Vielzahl von Menschen zu jagen, deren Tatbeitrag ungeklärt ist.
Die Bürgerrechte der Abgebildeten werden dabei ausgehebelt. Wer sich nun unter den Abgebildeten befindet, ist vorverurteilt und stigmatisiert. Und bleibt es. Denn dass nach der Identifizierung der Personen deren Bilder gelöscht werden, wie es juristisch zwingend notwendig ist, kann niemand garantieren. Im Gegenteil. Was einmal im Internet publiziert wurde, ist daraus schwer wieder zu verbannen. Polizei, Staatsanwälte, Richter und Medien wissen und ignorieren das.
Es gab Zeiten, da wurde tatverdächtigen Personen in fast allen Medien ein schwarzer Balken über die Augenpartie montiert, um ihre Identifizierung und damit eine Vorverurteilung nicht zu ermöglichen. Auch wenn der schwarze Balken, ein recht altbackenes grafisches Element ist, so wünscht man ihn sich dieser Tage zurück.
Festzuhalten bleibt: Mit einer Öffentlichkeitsfahndung am Rande der Rechtmäßigkeit jagt Hamburg mutmaßliche G20-GewalttäterInnen. Gleichzeitig verweigert sich die Stadt auf Druck der Polizeigewerkschaften einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Seit dem G20-Gipfel ist in Hamburg jedes rechtsstaatliche Maß verloren gegangen. Es regiert die Hysterie.
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