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Norddeutsche Sachlichkeit

ARCHITEKTURIm frühen 20. Jahrhundert erneuerte der Architekt Heinrich Tessenow das Bauen, das bezeugen bis heute erhaltene Gebäude in der Region Braunschweig. Im Fokus hatte er menschenwürdiges Wohnen und Leben. Aber wie umgehen mit diesem Erbe?

Ausbildungsgut, Trainingsheim für Fußballer und Gemeindehaus in einem: Das von Heinrich Tessenow entworfene Gebäude in Steinhorst steht nun leer Foto: Heinrich-Tessenow-Archiv Berlin

VON BETTINA MARIA BROSOWSKY

Allerorten werden jetzt 500 Jahre Reformation gefeiert, festgemacht an Martin Luthers 95 Thesen aus dem Jahr 1517. Nicht immer werden dabei auch die „Judenschriften“ erwähnt, die der Reformator zwischen 1523 und 1543 verfasste. Luther bezog darin theologisch Stellung zum jüdischen Glauben. Anfänglich empfahl er, das vermeintlich verlorene Bibelvolk zum Christentum zu bekehren. Weil aber die Bereitschaft zu einem solchen Übertritt nachhaltig ausblieb, legte er nach: Evangelische Landesherren ermutigte Luther zur Vertreibung von Juden und sogar dazu, deren Bücher, Schulen und Synagogen zu verbrennen.

Religionshistoriker haben Luthers Worte nie als explizite Handlungsaufforderungen verstanden, eher als Auswüchse seiner notorisch derben Rhetorik. Gleichwohl kam es danach zu religiös motivierten Vertreibungen von Juden, so auch 1546 in Braunschweig. Im frühen 18. Jahrhundert dann entfaltete sich dort doch noch neuzeitlich jüdisches Leben. Die Region brachte sogar Protagonisten eines international wirkmächtigen, reformierten Judentums hervor: Der an der französischen Aufklärung orientierte Philosoph Moses Mendelssohn etwa pflegte den Disput mit dem Wolfenbütteler Gotthold Ephraim Lessing und inspirierte den Literaten zur religiös toleranten Figur des Nathan.

Die jüdischen Bankiers Philipp Samson und Israel Jacobson sahen in der Bildung einen Schlüssel zu Emanzipation und selbstbewusster Integration. Sie errichteten in Wolfenbüttel und Seesen gemeinschaftliche Freischulen für jüdische und christliche Schüler. Auch die Religionspraxis dieser beider Orte folgte einer reformerischen Ausrichtung: Der Seesener Jacobstempel aus dem Jahr 1810 gilt als weltweit erste Sy­nagoge dieses Typs.

Ein 2016 gegründetes Netzwerk wissenschaftlicher und öffentlicher Einrichtungen der Braunschweiger Region trägt nun den Namen Israel Jacobson. Kürzlich erschienen ist ein von dem Netzwerk verantworteter Führer zu den Orten jüdischer Kultur und Geschichte im gesamten Landstrich – deutschlandweit ist das eine echte Seltenheit.

Mit dem Erhalt bürgerlicher Rechte im Laufe des 19. Jahrhunderts sowie der Lockerung restriktiver Zunftordnungen eröffneten sich für Juden neue Berufsfelder in Handwerk und Landwirtschaft. Alexander Moritz Simon (1837–1905), Bankier und Philanthrop in Hannover, gründete 1893 im Vorort Ahlen eine israelitische Erziehungs- und Bildungsanstalt, die ab 1919 als Gartenbauschule diente. Es folgten um 1910 ein Ausbildungsgut in Steinhorst bei Gifhorn und 1913, zur Lehrerbildung, das „Simon’sche Seminar für Gartenbau und Handfertigkeit“ in Peine.

Architekt dieser beiden Bauten war Heinrich Tessenow (1876–1950). Der gebürtige Rostocker – „mehr Grübler, lyrischen Charakters“, hieß es im Kollegenkreis – zählte nach 1900 zu den prägenden Erneuerern der Architektur. Als gelernter Zimmermann sah er im qualitätsvollen Handwerk die Basis für ein zeitgemäßes gutes Bauen; eine Bauaufgabe gelte es ohne Zuhilfenahme von Stilmitteln werkgerecht auszuführen, meinte Tessenow. Er distanzierte sich gleichermaßen von den akademischen Erstarrungen des Historismus wie von zeitgenössischen formalen Eskapaden wie denen des Jugendstils.

Sein Anknüpfen an die „Letzte Baukunst“, die Zeit um 1800, war also keinesfalls reaktionär, sondern wollte eine spezifische Kultur der angestrebten Harmonie zwischen Mensch und Natur geistig wiederbeleben. Tessenows Hauptaugenmerk galt dem menschenwürdigen Wohnen und Leben. Er entwarf unzählige kleine, ländliche Daseinsweisen favorisierende Wohnhäuser und Siedlungen, er lehrte und publizierte zu Hausbau wie Handwerk, zum Schulbau oder zu Stadtgestalten unterschiedlicher Größe, immer mit seinen atmosphärisch dichten Planzeichnungen und Perspektiven belegt.

Das Lehrgut Steinhorst hat die Zeit, insbesondere auch das NS-Regime, überstanden, vieles von der originalen Ausstattung ist noch vorhanden

Um antisemitischen Ressentiments zu entgehen, hatte die Simon’sche Stiftung für ihr Land- und Lehrgut bewusst die abgelegene und landwirtschaftlich eher unergiebige Südheide gewählt. Zeitgleich zu seinen ersten lebensreformerischen Bauten – in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden – errichtete Tessenow hier einen schlicht-eleganten, modernen Landhof: einen dreiflügeligen hellen Putzbau mit markantem Dach. Zwei Geschosse nahmen Unterrichtsräume und Wohnheim der israelitischen Lehrlinge auf. Dagegen fiel das Hauptgebäude des Lehrerseminars in Peine zwar etwas repräsentativer aus, es zeigt aber ebenfalls die Grundhaltung einer norddeutschen Sachlichkeit. Beide Einrichtungen mussten in den wirtschaftlichen Notjahren nach dem Ersten Weltkrieg ihre Arbeit schon wieder einstellen, so verlor sich bald die Kenntnis ihrer ursprünglichen Funktion – und ihres Architekten.

In Peine verweist nur noch der Straßenname „An der Simon­stiftung“ auf die Geschichte, der dortige Bau ist längst in Wohnungen aufgeteilt worden. Dagegen hat das Lehrgut Steinhorst die Zeit, insbesondere auch das NS-Regime, überstanden, vieles von der originalen Ausstattung ist noch vorhanden, sogar die Davidsterne im Fliesendekor eines Waschraumes. Ein Grund dafür mag die prominente Nutzung als Erholungs- und Trainingsheim gewesen sein: ab 1926 durch den Deutschen Sport-Verband, ab 1936 durch den Norddeutschen Fußball-Verband im DFB, nach 1949 dann durch den Hamburger Fußball-Verband. Das bescherte dem kleinen Heideort stolze fünf Sportplätze – und regelmäßigen Besuch durch Bundesliga-Stars wie Uwe Seeler.

Nach der anschließenden, ebenfalls pfleglichen Nutzung durch die Gemeinde steht das ortsbildprägende Gebäude nun leer. Ginge es nach der örtlichen „Tessenow-Runde“ aus zwölf Honoratioren – ihrerseits Mitglied im Israel-Jacobson-Netzwerk –würde es denkmalgerecht saniert und als modernes Seminarhaus wiederbelebt. Dafür wirbt die „Runde“ derzeit kräftig – unter anderem mit einer kleinen, umso informativeren Ausstellung an der Technischen Universität in Braunschweig.

Ausstellung „Schulbau und dergleichen – der Reformarchitekt Heinrich Tessenow“: bis 24. Mai, TU Braunschweig, Architekturpavillon, Pockelsstraße 4.

Vortrag „Wo das Notwendige schön wird, wo das Zweckgebundene zu klingen beginnt – Architekturen des Gebrauchs von Heinrich Tessenow“ von Olaf Gisbertz, Institut für Baugeschichte, TU Braunschweig: Do, 18. 5., 18.30 Uhr

Merian Guide „Jüdische Kultur und Geschichte in der Region Braunschweig-Wolfsburg“, Travel House Media 2017, 144 S., 11,99 Euro

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